Aus dem Sprachunterricht

Ich hatte einmal vor einigen Jahren eine Schülerin auf einem allgemein sehr hohen Sprachniveau, die hauptsächlich an ihrer Wissenschaftsprache arbeiten wollte. Also neutrale Darstellungsweise, Quellen richtig angeben, Hypothesen formulieren und so weiter. Eines Tages kommt sie in den Unterricht und jubelt: „Ich hab’s geschafft. Ich hab’s geschafft! Jetzt weiß ich alles, was ich wissen muss.“

Rückblickend muss man sagen, dass sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon mehr gewusst hat, als sie überhaupt hätte wissen müssen. Denn Folgendes ist passiert:

Sie kommt eines Tages nach dem letzten Deutschkurs ins Büro, sucht sich den erstbesten deutschsprachigen Kollegen und prasselt auf ihn ein. Noch ganz elektrisiert von den Qualen des Deutschlernens: Diese Grammatik, bitte, wie kann man denn nur! Wem das bloß eingefallen ist! Und dann noch dieser Konjunktiv II — da hört sich ja alles auf! Und der Kollege hört sich brav an, wie sie ein großes Lamento über diese schreckliche deutsche Sprache macht, und sagt dann ganz zum Schluss:

„Wie jetzt, wir haben zwei Konjunktive?“

Das war natürlich für die Schülerin die Bestätigung schlechthin, dass sie auf dem höchsten aller Deutschniveaus angekommen sein muss, weil sie jetzt endlich genau so viel — oder besser: so wenig — weiß wie ein Muttersprachler.

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Zwei deutsche Konjunktive

Die Antwort auf die Frage ihres Kollegen wäre natürlich ja gewesen. Das Deutsche kennt zwei verschiedene Konjunktive: Konjunktiv I und Konjunktiv II.

Der erste Konjunktiv ist auch als Konjunktiv Präsens bekannt, der zweite als Konjunktiv Präteritum. Allerdings haben weder Konjunktiv I noch Konjunktiv II einen Zeitbezug. Das heißt der sogenannte Konjunktiv Präsens ist nicht nur für die Gegenwart gut und der Konjunktiv Präteritum nicht nur für die Vergangenheit. Im Gegenteil: Die Frage nach der Zeit, also in welcher Zeit eine Aussage gemacht wird, ist — zumindest auf Deutsch — ganz und gar irrelevant, wenn man herausfinden möchte — oder wenn man herausfinden muss — welche Form man in einem bestimmten Kontext zu verwenden hat.

Wichtig ist, dass man aber auch Folgendes versteht: Eins und zwei sind nicht unbedingt bessere Bezeichnungen. Eins und zwei heißen die beiden Formen nämlich nicht, weil der erste Konjunktiv wichtiger oder älter ist als der zweite. Es ist nicht so, dass der erste Konjunktiv häufiger verwendet wird als der zweite — weil er wichtiger ist oder älter oder sonst etwas. Meist ist es nämlich umgekehrt: Wenn mich jemand fragt, was denn der zweite Konjunktiv auf Deutsch mache, dann stellt sich ganz oft heraus, dass sie die Antwort auf die Frage eigentlich eh schon kennen, und dass es der erste Konjunktiv ist, der ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Die Nummerierung eins, zwei bedeutet beim Konjunktiv nichts anderes, als dass es sich um zwei komplett verschiedene Phänomene handelt, das heißt dass der Konjunktiv I, das eine Phänomen, eine ganz andere Funktion in der Sprache erfüllt, als der Konjunktiv II, das andere Phänomen.

Also schauen wir uns einmal genauer an, was die beiden Konjunktive jetzt im Detail voneinander unterscheidet und welche Möglichkeiten wir haben, sie in der Praxis zu verwenden. Dazu müssen wir zuerst einmal wissen, wie Konjunktiv I und Konjunktiv II gebildet werden. Zum Glück ist das nicht weiter schwierig.

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Wie bildet man den Konjunktiv I?

Beginnen wir beim ersten Konjunktiv. Hier brauchen wir zuerst den Stamm des Infinitivs. Wir nehmen also die Grundform des Verbs — zum Beispiel haben — und streichen dort die Endung, bei der Grundform ist das fast immer -en. Der Stamm von haben ist also hab-. An diesen Stamm hängen wir nun noch neue Endungen an:

-e, -est,-e, -en, -et, -en

Diese Endungen sind identisch mit den Endungen des Präteritums, also der Mitvergangenheit. Ganz neu sind sie also nicht. Aber gut für uns, weniger zu merken. Bei haben sieht das dann mit den Endungen ungefähr so aus:

ich habe
du habest
er/sie/es habe
wir haben
ihr habet
sie haben

Nicht so schwer, oder? Und es kommt noch besser: Der Konjunktiv I ist nämlich eines der wenigen regelmäßigen grammatikalischen Phänomene auf Deutsch. Zumindest was die Bildung betrifft. Das heißt, hat man einmal das Prinzip durchschaut: Grundform minus -en plus neue Endung, dann funktioniert es für alle Verben gleich. Die einzige Ausnahme ist das Verb sein. Hier fehlen in der 1. und 3. Person Einzahl nämlich die Endungen. Wir sagen also:

ich sei
du seiest
er/sie/es sei
wir seien
ihr seiet
sie seien

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Wie bildet man den Konjunktiv II?

Beim Konjunktiv II sollten wir uns bei der Bildung auch nicht wirklich schwer tun, weil wir ihn im Alltag viel häufiger verwenden als den Konjunktiv I. Beginnen wir diesmal am Ende: Wir brauchen für den zweiten Konjunktiv nämlich wieder dieselben Endungen, die wir gerade für den ersten verwendet haben:

-e, -est, -e, -en, -et, -en

Das ist einfach. Und als Stamm nehmen wir diesmal nicht den Infinitiv, sondern das Präteritum, die Mitvergangenheit. Wenn wir also wieder unser Verb haben hernehmen, in der Nennform, kriegen wir ich hatte in der Mitvergangenheit.

Jetzt kommt allerdings eine schlechte Nachricht: Der Konjunktiv II ist leider nicht so regelmäßig wie der Konjunktiv I. Es gibt nämlich zwei wichtige Regeln, die bei der Bildung des zweiten Konjunktivs zu beachten sind. Um aus der Mitvergangenheit ich hatte einen Konjunktiv II zu machen, fehlen uns noch zwei Pünktchen auf dem a, also ein Umlaut. Mitvergangenheit: ich hatte, Konjunktiv II: ich hätte.

Die erste Regel lautet also: Dort wo möglich, erhält der Konjunktiv II einen Umlaut. Bei haben ist es möglich, bei nehmen auch:

nehmen → ich nahm → ich nähme

Bei bleiben nicht:

bleiben → ich blieb → ich bliebe

Soweit so gut. Wo’s geht, da geht’s. Wo nicht, da nicht.

haben → ich hatte → ich hätte; kommen → sie kam → sie käme; geben → ihr gabt → ihr gäbet

Abgesehen davon, dass ihr gäbet schon sehr verschnörkelt klingt, ist dieses System ja eigentlich sehr fein: Stamm + Endung + Umlaut fertig.

Wenn da nicht diese regelmäßigen Verben wären. Die bilden ihren Konjunktiv II normalerweise nämlich nicht mit Umlaut. Diejenigen von euch, die bei der Bildung gerade gut aufgepasst haben, werden vermutlich schon ahnen, welchen Haken diese Sache hat. Präteritumstamm plus Präteritumendung ergibt?

Nehmen wir ein Beispiel: fragen → ich fragte. Präteritumstamm plus Präteritumendung ergibt? Richtig, Präteritum: fragte. Regelmäßige Verben im Konjunktiv II klingen genauso wie ihr Präteritum im Indikativ. Ob das Verb nun als Mitvergangenheit oder als Konjunktiv interpretiert wird, hängt meist ausschließlich vom Kontext ab.

Ganz schon verzwickt. Aber Regel Nummer zwei ist dafür intuitiv gar nicht so schwer zu verstehen. Machen wir zwei Beispiele. Nehmen wir zuerst das Wort finden.

Ich fände es gut, wenn wir schon früher losfahren würden.

Kein Problem, klingt soweit gut. Was ist aber mit folgendem Satz:

Ich fände es gut, wenn wir schon früher losführen.

Immer noch gut? Vermutlich stoßen sich jetzt schon viele am letzen Verb: losführen. Klingt irgendwie sperrig. Noch schlimmer wird es bei Formen wie: flöge, tränke, fröre oder hälfe. Diese Formen klingen definitiv altmodisch.

Woran liegt das? Starke Verben, haben wir gerade gesehen, sind anhand ihres Umlauts meist sehr einfach als Konjunktiv II zu erkennen. Bei schwachen Verben auf der anderen Seite tun wir uns allerdings oft sehr schwer, weil sie ohne den Umlaut die gleiche Form wie die Mitvergangenheit haben.

Aber genau dieser Umstand hat dazu geführt, dass sich eine Ersatzform für die zweite Konjunktivform gebildet hat. Statt ich fragte dürfen wir auch ich würde fragen sagen. Nach und nach hat diese würde-Ersatzform alle Konjunktiv II-Formen in der Alltagssprache verdrängt. Bis auf die Hilfsverben hätte, wäre, würde, die Modalverben könnte, müsste, wollte, sollte und so weiter und ein paar andere häufige Verben wie bräuchte, fände, ginge, ließe zum Beispiel, wird die würde-Form heutzutage bei nahezu allen Verben gebraucht, egal ob sie regelmäßig sind oder nicht.

flöge, tränke, fröre und hälfe wirken also deshalb verstaubt, weil sie der Verallgemeinerung einer Regel zum Opfer gefallen sind, die ursprünglich dazu gedacht war, das Formensystem zu vereinfachen. Paradoxerweise führt das heute aber dazu, dass das System kompliziert wirkt. Wir kennen und verwenden im Alltag meist die würde-Form, scheitern aber häufig an seltenen Grundformen, und zwar nicht nur, weil sie veraltet sind, sondern auch, weil ihre Bildung auf zwei unterschiedlichen Prinzipien beruht.

Und damit ist der Spuk noch nicht einmal vorbei! Hat man erst einmal den Formenreichtum des Konjunktiv durchschaut, fängt der Spaß erst richtig an, nämlich sein Gebrauch. Aber dazu mehr im zweiten Teil zum deutschen Konjunktiv.

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Lust auf ein Rätsel?

Wer kennt sie nicht, den Kuckuck und den Esel, die sich darüber streiten

wer wohl am besten sänge zur schönen Maienzeit?

Aber wieso spricht Hoffmann von Fallersleben in seinem berühmten Liedtext im Konjunktiv II? Und was verrät uns der Konjunktiv II über den Autor und seine Sicht auf das Singduell der beiden Streithälse?

Viel Spaß beim Rätseln und Recherchieren. Wer eine Lösung gefunden hat, kann sie hier mit meiner vergleichen.

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