Welche Sprache spricht man in Österreich?

In Österreich spricht man Deutsch? Oder etwa nicht? In linguistischen Kreisen eine GretchenfrageEine heikle Frage also, denn sie zwingt uns, die deutsche Sprache, die in Österreich gesprochen wird, zu bewerten, zu klassifizieren.
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Ist es eine eigenständige Sprache? Ein charmanter Dialekt? Oder doch einfach nur Hochdeutsch — einfach nur nicht ganz so korrekt? Aus wissenschaftlicher Perspektive ist keine dieser Antworten richtig. Aber: Was ist die österreichische Sprache dann?
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Beginnen wir mit einer kurzen Erklärung der wichtigsten Begriffe.
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Was bedeutet Dialekt?

Ein Dialekt ist eine regionale Sprachvarietät, eine Mundart also. In Österreich werden zum Beispiel das Burgenländische, das Steirische oder das Salzburgerische als Dialekte bezeichnet. Ein Dialekt kann sich auf allen Sprachebenen (Aussprache, Grammatik, Wortschatz usw.) von anderen Dialekten und von der Standardsprache unterscheiden. Und damit sind wir auch schon beim zweiten wichtigen Begriff.
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Was bedeutet Standardsprache?

Eine Standardsprache ist das Ergebnis sprachlicher Standardisierung. Dabei wird eine Einzelsprache durch verschiedenene sprachpolitische oder sprachplanerische Maßnahmen normiert. Sie wird unter anderem in Grammatik- und Wörterbüchern dokumentiert und es werden sprachliche Normen festgelegt, die für alle Sprecher*innen dieser Sprache gültig sind. Dadurch wird außerdem garantiert, dass eine Standardsprache in allen wichtigen Lebensbereichen verwendet werden kann, egal ob man gerade beim Bäcker Semmeln kauft, Deutschmatura schreibt oder den Wetterbericht im Fernsehen vorliest. Dialekte sind in der Regel aber nicht von diesen Maßnahmen betroffen.
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Zur Beantwortung unserer heiklen Frage ist noch ein weiterer Begriff essentiell, der nicht mit der gerade eben besprochenen Standardsprache verwechselt werden darf.
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Was bedeutet Standardvarietät?

Eine Standardvarietät ist eine standardisierte Varietät einer Einzelsprache. Stellt man sich eine Sprache wie ein hierarchisches System vor, steht die Standardsprache an der Spitze dieses Systems. Sie besitzt das meiste Prestige und
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Im Gegensatz zu einem Dialekt, der zwar auch eine sprachliche Varietät darstellt, aber meist nicht standardisiert ist, ist eine Standardvarietät eine konkrete, meist regionale, Ausprägung einer Standardsprache. Eine solche Standardvarietät kann dann weiter in Umgangssprachen, Fachsprachen, Dialekte und Soziolekte unterteilt werden.
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Eine Standardvarietät ist oft einem sogenannten Sprachzentrum zugeordnet. Und damit wären wir auch schon beim — für heute — letzten wichtigen Begriff.
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Was bedeutet Sprachzentrum?

Ein Sprachzentrum ist eine Region, in der sich eigene standardsprachliche Besonderheiten herausgebildet haben, also eine Standardvarietät. Manche Sprachwissenschaftler*innen sprechen auch von nationalen Sprachzentren, wenn die sprachlichen Grenzen mit den politischen Grenzen einer ganzen oder einem Teil einer Nation übereinstimmen. 
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Besitzt ein Sprachzentrum eigene Nachschlagewerke, wie zum Beispiel Wörterbücher, um standardsprachliche Besonderheiten festzulegen und zu dokumentieren, spricht man außerdem von einem Vollzentrum.
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Innerhalb einer Sprachgemeinschaft können auch mehrere Vollzentren nebeneinander existieren. In sprecherreichen Sprachen wie Englisch, Spanisch, Französisch oder Arabisch zum Beispiel ist das sogar eher die Regel, und nicht die Ausnahme. Die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Sprachzentren ist aber nicht immer ausgeglichen. Meist wird die Standardvarietät eines Zentrums subjektiv als “normaler”, standardsprachlicher, korrekter bewertet, weil die Region bzw. der Staat, in dem diese Varietät vorherrscht, politisch oder wirtschaftlich stärker ist als die Regionen, in denen andere Standardvarietäten gesprochen werden.
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So wird etwa das Französisch, das in Québec (Kanada) gesprochen wird, als minderwertiger angesehen, als das Französisch in Frankreich. Das Englisch in Südafrika als minderwertiger als das in Großbritannien oder den U.S.A.
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Was ist nun Österreichisch?

Vorsichtig ausgedrückt könnten wir es also so formulieren: Österreichisch ist keine eigenständige Sprache, sie zählt aber neben dem bundesdeutschen und dem Schweizer Hochdeutsch zu einer der drei nationalen Standardvarietäten der deutschen Sprache. Wir können also mit gutem Gewissen von österreichischem Deutsch sprechen.
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Österreichisch ist also kein Dialekt, so wie Wienerisch, Kärntnerisch, Tirolerisch usw. Die österreichische Standardvarietät ist das, was in der Alltagssprache oft als Hochdeutsch — eben österreichisches Hochdeutsch — bezeichnet wird. Zudem handelt es sich bei österreichischem Deutsch auch um ein Vollzentrum nach obiger Definition. Seine Besonderheiten sind also in Nachschlagewerken festgehalten, es ist, wie man fachsprachlich sagen würde, kodifiziert.
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Dennoch unterscheidet sich das österreichische Deutsch von den anderen beiden nationalen Standardvarietäten. Es besitzt einen spezifischen Wortschatz, spezifische Redensarten und Besonderheiten in Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung.
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Wir gehen in die Volksschule, machen Matura und kriegen im Zeugnis einen Dreier.  Wir beginnen unser Jahr im Jänner, aber sehen uns meist nur zu Weihnachten, weil sich manches bei uns einfach nicht ausgeht. Wir trinken Kaffeeeh statt Kaffffe. Und sagen lustik statt lustich. (Die bundesdeutschen Entsprechungen wären: Grundschule, Abitur, eine Drei, Januar, an Weihnachten, nicht möglich sein/nicht reichen.)
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All diese Dinge würde ein*e durchschnittliche*r österreichische*r Sprecher*in vermutlich nicht als regional oder gar dialektal, sondern als standardsprachlich werten. 
Doch wenn das so ist, warum sind sich dann trotzdem viele nicht sicher, was Österreichisch genau ist? Das bringt uns zurück zur Gretchenfrage: Sprichst du nun Deutsch oder nicht?
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Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten.
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Asymmetrische Verhältnisse

Erstens herrscht zwischen der bundesdeutschen Varietät und den anderen beiden Varietäten ein ungleiches Verhältnis. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung Deutschlands im deutschsprachigen Gebiet, besitzt das bundesdeutsche Deutsch mehr Prestige als das Österreichische oder Schweizer Deutsch. Das bundesdeutsche Deutsch wird nicht nur stärker in andere deutschsprachige Gebiete exportiert, als es umgekehrt der Fall ist — zum Beispiel durch deutsche Synchronisation fremdsprachiger Filme und Serien, den einfachen Zugang zu deutschen Privatsendern über Satellitenfernsehen oder aber auch die fortschreitende Digitalisierung. Die bundesdeutsche Standardvarietät ist auch die mit Abstand am besten kodifizierte. Der Dudenverlag ist in diesem Bereich besonders produktiv und übernimmt oft auch die Normierung der anderen Varietäten. Man spricht dann von Außenkodifizierung. Die Verantwortung für, und damit auch der Einfluss auf, die Erstellung von Wörterbüchern oder Grammatiken zum Beispiel wird so an eine son. außenstehende Instanz abgegeben. Dazu kommt, dass im regulären Wörterbuch des Verlags (kurz: im Duden) ausschließlich österreichische und Schweizer Besonderheiten auch als solche kenntlich gemacht werden. Bundesdeutsche Varianten werden hingegen nicht markiert. Dies erweckt den Eindruck, als handle es sich bei diesen Varianten um den “normalen”Sprachgebrauch, die Standardnorm,  während der österreichische und der Schweizer Gebrauch zu Abweichungen degradiert werden.
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Eine ähnliche Situation zeigt sich etwa auch bei Lehrbüchern für Deutsch als Fremdsprache. Auch hier gibt es sehr viel mehr Auswahl an Büchern von bundesdeutschen Verlagen — die meist auch die entsprechenden Ausgaben für Österreich oder die Schweiz herausgeben. Alle, die schon einmal versucht haben, in Österreich Deutsch zu unterrichten, wissen, wie mühsam es sein kann, das im Buch Gedruckte in die österreichische Lebenswelt zu übersetzen.
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Diese Asymmetrie führt dazu, dass der Eindruck entsteht, es gäbe ein “korrektes” Deutsch und mehrere — durchaus charmante — aber “weniger korrekte” Unterformen dieser einen Norm.  
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Fehlendes Sprachbewusstsein

Zweitens sind sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, wie wir sie in diesem Artikel durchkauen, in der Bevölkerung allgemein kaum verankert. Oft fehlt es nicht nur an der Terminologie, sondern auch an einem tieferen Verständnis für die Machtverhältnisse, die die sprachliche Varianz im deutschsprachigen Gebiet prägen.
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Das ist insofern von Bedeutung, als in Österreich das sogenannte Dialekt-Standard-Kontinuum sehr stark ausgeprägt ist. Damit bezeichnet man den mehr oder weniger fließenden Übergang vom Dialekt, von der Mundart, über die Umgangssprache, also eine etwas größere regionale Varietät des Deutschen mit standardsprachlichen Zügen, bis zur wirklichen Standardsprache, der sogenannten Hochsprache, die überregional Gültigkeit besitzt und gleichzeitig das höchste Prestige trägt. Es ist durchaus nicht untypisch, dass ein*e Sprecher*in innerhalb eines Gespräches oder sogar Satzes alle drei Ausprägungen, den Dialekt, die Umgangssprache und die Standardsprache, benutzt.
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Die fehlende Sensibilisierung für den Varietätenreichtum der deutschen Sprache führt dazu, dass nicht-dominante Varietäten im Vergleich mit einer dominanten Varietät abgewertet werden. Nicht nur Deutsche sondern auch Österreicher*innen und Schweizer*innen halten das bundesdeutsche Deutsch für das beste “Hochdeutsch”, was bei Sprecher*innen aus den beiden nicht-dominanten Zentren (A und CH) in weiter Folge zu einem sprachlichen Unterlegenheitsbewusstsein, einem sogenannten linguistic cringe führen kann — auf gut Deutsch einem sprachlichen Minderwertigkeitskomplex in Bezug auf ihre eigene Sprache.
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Selbst in Österreich, wo Befragungen nahelegen, dass sich die Bevölkerung eigentlich zum Großteil einem eigenständigen österreichischen Standard bewusst ist, passen sich viele Sprecher*innen in der Kommunikation mit deutschen Bürger*innen an deren Sprachgebrauch an und vermeiden österreichische Varianten in offiziellen Sprechsituationen. Unser Gefühl sagt uns, dass die Sprache, die wir sprechen, vollkommen in Ordnung und absolut funktional ist. Unser Verstand, weil er es in der Schule, in den Medien, im Internet immer wieder vorgelebt bekommt, hält sie aber nicht für „richtiges“ Deutsch, sondern nur für eine minderwertige Abweichung davon. Der bloße Gedanke, es könnte zwei oder sogar mehr Standardvarietäten des Deutschen geben, ist uns irgendwie unheimlich. 
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Eine Schweizer Forscherin formuliert es so:
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Die Plurizentrik (der deutschen Standardsprache) ist kein Phantom. (…) Sie mag in den Köpfen der Sprecher nicht als Konzept existieren, wird aber praktiziert.

Sprache stiftet Identität

Und drittens, Sprache ist nicht nur Kommunikationsmittel, sie ist auch Teil unser Identität als Mensch, als Person. Sie dient uns also als Ausdrucksmittel, aber auch als Mittel zur Abgrenzung von anderen. Das betrifft natürlich ganz stark unsere individuelle Sprache, unseren Ideolekt, aber auch unsere Gemeinschaftssprache, sei es nun der Dialekt, die Umgangssprache oder die Standardsprache, trägt zur Identitätsbildung bei. 
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Dabei spielen natürlich immer auch historische Gesichtspunkte eine Rolle. Die allgemeine Sprachgeschichte des Deutschen seit dem Mittelalter, die Nationalstaatenbildung in Europa im bzw. ab dem 19. Jahrhundert, die politischen Ereignisse vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dinge, auf die ich in diesem Artikel leider nicht im Detail eingehen kann.
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Wo bekomme ich Informationen über das österreichische Deutsch?

Wichtig ist zu verstehen, dass wir uns stark, und laufend, über Sprache identifizieren. Mit uns selbst, mit anderen, mit dem, was um uns geschieht. In Österriech hat die Sprache, also die österreichische Sprache, nach dem Ende des zweiten Weltkriegs eine ganz besondere Rolle gespielt. Mit der ersten Auflage des Österreichischen Wörterbuchs 1951 zum Beispiel wurde ein bedeutender symbolischer Schritt zur Stärkung der österreichischen — im Gegensatz zur deutschen — Identität gesetzt.
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Auch heute gibt es immer wieder neue Ansätze, um das Image des österreichischen Deutsch (auch außerhalb der Staatsgrenzen) zu verbessern und das Sprachbewusstsein in den Köpfen der Sprecher*innen zu stärken.
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Das Variantenwörterbuch des Deutschen ist ein gemeinsames Projekt von Sprachwissenschaftler*innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz und dokumentiert nicht nur die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, in denen Deutsch Amtssprache ist oder als Minderheitensprache anerkannt wird.
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Auch die Variantengrammatik des Standarddeutschen ist ein länderübergreifendes Projekt und widmet sich der grammatischen Variation
in der geschriebenen Standardsprache.
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In dem vom ORF erstellten Lernbehelf zum Thema Sprachtraining Über Sprache und Sprechen im ORF wird auf die identitätsstiftende Funktion der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehprogramme hingewiesen und eine sogenannte gemäßigte Hochlautung empfohlen, oder anders: ein “gepflegtes” Deutsch mit österreichischer Klangfarbe und österreichischem Vokabular. Konkret bedeutet das, dass zum Beispiel die Endsilbe -ig, wie in sonn-ig, nicht wie [-ich]ausgesprochen wird, sondern ungerieben [-ig] — der Lernbehelf rät also zur Aussprache richtig und nicht richtich.
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Zum Training einer mediengerechten (österreichischen) Aussprache verweist die Broschüre auf die Aussprachedatenbank des ARD, in der auch österreichische, Schweizer und Südtiroler Besonderheiten nachgeschlagen werden können.
In der Sprachwissenschaft gibt es lesenswerte — und vor allem auch für Laien lesbare — Studien zu den Standardvarietäten des Deutschen. 
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Zum Beispiel das 2015 an der Universität Wien abgeschlossene Projekt zum österreichischen Deutsch an Schulen. Oder der vom FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) geförderte Spezialforschungsbereich Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption beschäftigt sich mit der Vielfalt der deutschen Sprache in Österreich. Das Ziel des Teams aus Wien, Graz und Salzburg ist es gerade, die Forschungsergebnisse möglichst einfach zu vermitteln und frei zugänglich zu machen.
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Sprache oder Dialekt — eine Gretchenfrage

Was schließen wir also aus alledem? Das mit der Sprache ist gar nicht so einfach. Vor allem im deutschsprachigen Raum, wo es sehr viel dialektale, umgangssprachliche aber auch standardsprachliche Varietät gibt, jedoch keine zentrale Kodifizierungsinstanz, herrscht bei vielen immer noch großes Unwissen über das Konzept plurizentrische Sprache.
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Für Außenstehende ist vermutlich die Vorherrschaft der deutschen Varietät in den Medien, im Fremdsprachenunterricht und überall sonst dafür verantwortlich, das die deutsche Sprache in Österreich und in der Schweiz nicht als gleichberechtigte Standardvarietäten angesehen werden. Dass Österreicher*innen und Schweizer*innen selbst mit ihrer Sprache hadern, liegt wahrscheinlich aber auch daran, dass der Variantenreichtum im Alltag, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich, durchaus gelebt und vorgelebt wird, das Konzept der Plurizentrik aber in den Köpfen der Sprecher*innen nicht verankert ist. Was fehlt ist also das Wissen darum, dass und vor allem auch warum andere Standardvarietäten neben der bundesdeutschen eben genau das sind, nämlich Standard, nicht mehr und nicht weniger.
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Und was lernen wir daraus? Uns allen würde ein bisschen mehr Sprachwissen ganz gut tun. Weil wir alle ein Recht darauf haben, zu wissen, worüber — und womit — wir sprechen.

Weiterführende Links

Du möchtest noch mehr zum Thema “Plurizentrik” wissen? Ich bin immer auf der Suche nach Inspirationen für neue Folgen von Schon gewusst?. Vielleicht hast du eine gute Idee oder eine brennende Frage zu diesem oder anderen sprachwissenschaftlichen Themen. 
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Schreib mir deine Vorschläge oder Fragen einfach auf wissen@lehrwerk.at.