Sprache verändert sich

Zu den toten Sprachen solle man sie legen, die deutsche Sprache, denn nur die Toten hätten Zeit, sie zu erlernen. 1897 forderte der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain eine drastische Vereinfachung der deutschen Sprache. Nun, knapp 125 Jahre später, will sie niemand mehr, diese Vereinfachung. Im Gegenteil: Von Verfall ist heute die Rede. Von Verstümmelung.

Wenn man etwa in den Leitlinien des Vereins Deutsche Sprache (VdS) nachliest oder in den Kolumnen vom berühmt berüchtigten Zwiebelfisch Bastian Sick merkt man schnell, wo die sogenannten Probleme liegen. Gendersprache, Sprachkontakt, schlechtes Deutsch — allesamt “lebensbedrohende Attacken” auf die deutsche Sprache. Aber was, wenn all das ganz normal wäre? Anglizismen, Jugendsprache, sprachliche Variation.

Denn genau das ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht der Fall. Warum die Forderung nach gendersensibler Sprache kein böswilliger und überhaupt sinnloser Umbau der Grammatik ist, haben wir schon in Folge 4 besprochen. Heute soll es um sprachliche Variation und Sprachwandel gehen. Und darum, was diese beiden Phänomene mit Sprachpflege und schlechtem Deutsch zu tun haben.

Sprachwandel

Sprachwandel ist ein vielschichtiges Phänomen. Auch wenn sprachpflegerische Instanzen wie der VdS oder der Zwiebelfisch ihn in der Regel auf sehr begrenzte Ereignisse herunterbrechen. Die böse englische Sprache, der böse Dativ, die bösen Genderfanatiker*innen.

Sprache befindet sich in einem dynamischen Gleichgewicht. Und die Betonung liegt hier auf dynamisch. Sprache ist immerzu bewussten und unbewussten Veränderungen unterworfen. Das ist die Voraussetzung dafür, das wir sie überhaupt als kommunikatives Werkzeug verwenden können. Ohne die vielen kleinen Veränderungen mal hier mal da könnten wir uns heute wohl gar nicht mehr in unserer und über unsere Lebenswelt verständigen. Mit Sprachverfall haben diese Entwicklungstendenzen aber nichts zu tun.

Niemand kann sich vorstellen, heute noch wie im Mittelalter zu reden. Zum Glück müssen wir das auch nicht. Genauso wenig würde aber auch niemand davon ausgehen, dass unser heutiges Deutsch schlechter wäre als das damalige, nur — und gerade weil — es sich verändert hat.

Das Zwiebelmodell der Sprache

Eine einheitliche Definition für Sprachwandel gibt es nicht. Er kann also auch nicht auf vereinzelte Phänomene reduziert werden. Englische Wörter im Deutschen sind allein noch nicht Sprachwandel. Das kommt daher, dass Sprache aus unterschiedlichen Teilen besteht, aus unterschiedlichen Ebenen. Man kann sich das vorstellen wie die Schichten einer Zwiebel. Die folgende Graphik stellt das Zwiebelmodell der Sprachebenen nach Nübling et al. (2017) dar.

Im Kern der Zwiebel befindet sich grob gesagt die Grammatik einer Sprache. Wie wir Wörter und Sätze bilden, und wie wir diese aussprechen. Darüber liegt die Ebene der Rechtschreibung, gefolgt von der Ebene des Wortschatzes. Das heißt zuerst geht es darum, wie man die Wörter und Sätze einer Sprache aufschreibt und dann darum, welche Dinge und Vorstellungen eine sprachliche Gestalt in Form von Wörtern bekommen, und welche Bedeutung ihnen konkret zugeschrieben wird.

Ganz außen befinden sich noch zwei weitere Schichten. Die des Texts, wo es genau darum geht, nämlich welche Texte, Textsorten in einer Sprache gebräuchlich sind: Gedichte, Romane, politische Reden, Rezepte, E-mails, Tweets oder Voicemails zum Beispiel. Die äußerste Schicht bildet die sogenannte Pragmatik. Sie besitzt eine offene Grenze zur außensprachlichen Wirklichkeit, also unserer Welt, in der wir Sprache verwenden. Die Pragmatik hat die konkrete Sprachverwendung zum Gegenstand. Hier geht es also nicht um das grammatikalische System aus Lauten, Wörtern und Sätzen, sondern um das, was passiert, wenn wir Sprache wirklich schreiben oder sprechen. Sie definiert Sprache nicht als System, sondern als Handlung.

Die beiden äußeren Schichten, Text und Pragmatik, stellen also in gewisser Weise eine Verbindung zwischen dem inneren Sprachsystem und der äußeren Lebenswelt (mit Kultur, Gesellschaft, Sprachkontakt, Sprachpolitik, …) her. Also mit Dingen, die potentiell Einfluss auf das Sprachsystem und die sprachliche Handlungsfähigkeit ihrer Sprecher*innen haben können.

Wie sieht Sprachwandel aus?

Diese verschiedenen Zwiebelschichten sind aber mehr oder weniger durchlässig. Wie bei einer zu lange gelagerten Matschezwiebel, wo man mit dem Finger von den äußersten Schichten in die innersten ein Loch bohren kann — wenn man will. Und da ist es in der Sprache ganz ähnlich wie in der Küche. Durch die äußeren Schichten kommt man in der Regel viel einfacher und schneller als durch die inneren.

Machen wir ein Beispiel:

Wenn wir das englische Wort podcast nehmen. Das haben wir, so wie es ist, ohne dafür eine Übersetzung zu suchen, ins Deutsche übernommen, wir haben es also entlehnt. Dabei handelt es sich um die Aufnahme eines neuen Zeichens auf der Ebene des Wortschatzes. Veränderungen im Bereich des Wortschatzes sind oft sehr auffällig, für viele störend, vor allem was Anglizismen (Wörter aus dem Englischen) betrifft. Das liegt daran, dass diese Veränderungen, die Aufnahme eines neuen Wortes, aber auch der Verlust eines alten, oft sehr schnell passieren. Und alles, was sich schnell verändert, wird von uns — oft zu schnell — als Bedrohung gewertet.

Anders sieht es auf der Ebene der Grammatik aus. Die befindet sich ganz innen in der Zwiebel und ist daher weniger anfällig für Veränderungen. Äußere Einflüsse wie gesellschaftlicher Wandel, Sprachkontakt oder technologischer Fortschritt können ihr meist nicht so viel anhaben. Meist. Denn auch Grammatik ist nicht durch und durch stabil.

Auch dazu ein Beispiel:

Nehmen wir die Nachsilbe -lich. -lich macht aus anderen Wörtern, Eigenschaftswörter. Aus Freund wird freundlich. Aus Hof wird höflich. Dieses Wortbildungselement, das heute nicht mehr für sich allein stehen kann, stammt aber von einem eigenständigen althochdeutschen Hauptwort, nämlich lîh. Das hatte damals die Bedeutung Gestalt, Körper, Leib. Und wir hören auch noch die Verwandtschaft mit unseren heutigen Wörtern Leiche oder gleich. Ein Mensch, der einem Freund gleicht, ist freundlich. Verhalten, das dem am Hof, am königlichen Hof, gleicht, ist höflich. lîh ist also aus der Ebene des Wortschatzes, wo es noch ein eigenständiges Wort war, in die Ebene der Grammatik gerutscht. Es hat sich also mit der Zeit grammatikalisiert. Und das, also die Grammatikalisierung eines lexikalischen Elements, braucht Zeit.

Zwei Seiten des Sprachwandels

Und genau da liegt der Hund begraben: Sprachwandel ist beides. Der schnelle Wandel im Wortschatz — oder einer anderen äußeren Schicht — und der langsame in der Grammatik.

Während der schnelle Wandel uns ängstigt, weil er uns wie ein wildes Tier vor die Füße springt und unsere, wenn auch nur sprachliche, Existenz bedroht, bemerken wir oft gar nicht, dass ganz nebenbei auch ein langsamer, ein viellangsamer Wandel stattfindet. Das ändert jedoch nichts daran, dass auch beide Dinge von vielen Sprecher*innen abgelehnt werden. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Zum ersten: Ungewohnter, abweichender Wortschatz wird abgelehnt, weil in einem Menschenleben unheimlich viele neue Wörter ins Deutsche aufgenommen werden, sei es aus dem Englischen oder anderen Fremdsprachen, Fachsprachen oder Jugendsprachen. So viele, dass es manchen vorkommt, als würde dadurch unser geliebter, guter alter Wortschatz verdrängt. Auch gendersensible Sprache zum Beispiel wird abgelehnt, weil sie vergleichsweise schnell Sprachhandlungen, wie etwa die Anrede in politischen Reden oder die Berichterstattung in den Medien, verändert.

Und zum zweiten: Ungewohnte, abweichende Grammatikstrukturen werden abgelehnt, weil Veränderungen, die die Grammatik betreffen, auf der anderen Seit oft so langsam vonstatten gehen, dass uns diese Veränderungen in einer einzigen Lebzeit normalerweise gar nicht auffallen. Hören wir aber doch einmal etwas von der Norm Abweichendes, fühlt sich das für uns wie ein Regelverstoß an. Unser Urteil lautet dann meist: schlechtes Deutsch.

Aber was, wenn ich nun behaupten würde, schlechtes Deutsch gibt es gar nicht?!

So ein Blödsinn, werden jetzt viele von euch denken. In der Schule ist der Rotstift der Lehrerin nur so über unsere Deutschaufsätze geflogen. Der Beistrich gehört da nicht, das Wort ganz anders und der Satz da ist überhaupt gar nicht gut. Und damit sind wir auch schon beim zweiten Thema dieser Folge angelangt: der sprachlichen Variation.

Sprachliche Variation

Viele Sprecher*innen sind heutzutage fest davon überzeugt, dass es so etwas wie eine Standardsprache gäbe, ein Hochdeutsch auf gut Deutsch, mit einem Wortschatz, einer Grammatik und einer Aussprache, die über den Formen anderer Ausdrucksweisen stehen würden. Dabei ist aber den wenigsten bewusst, dass es diesen Standard nicht einfach schon immer gab, dass dieser Standard nicht einfach natürlich gewachsen ist.

Die Hochsprache, die sogenannte, wird nicht deshalb in bestimmten Bereichen wie der Schule oder den Medien gefordert, weil sie besser ist als andere Varietäten. Sie ist nämlich nichts anderes als genau das, eine Varietät. Eine sprachliche Varietät, die künstlich nach bestimmten Kriterien auf einen sogenannten Standard zurechtgestutzt wurde.

Denn Bestrebungen, eine deutsche Sprachnorm zu etablieren, gab es gefühlt schon immer. Dabei ging es Grammatikern und Lexikographen seit dem 15., und dann vor allem noch einmal im 18. und 19., Jahrhundert darum, Redundanz zu eliminieren. Eine sprachliche Form sollte auch nur eine Bedeutung oder Funktion haben. Variation, gleichberechtigte, nebeneinander existierende Formen, galt es tunlichst zu vermeiden.

Nur haben wir eben auch früher schon so gesprochen, wie uns der Schnabel gewachsen war. Und damit die Sprachgemeinschaft diese Norm auch brav  annimmt, findet gleichzeitig zu jeder Normierungstätigkeit immer auch eine Abwertung anderer Varianten statt. Um die neue Sprachnorm als richtiges Deutsch — und zwar als einzig richtiges — durchzuboxen, muss auf der anderen Seite so etwas wie falsches Deutsch angenommen werden.

Schlechtes Deutsch gibt es nicht an sich, es wurde und wird laufend konstruiert.

In den modernen Kontext übersetzt bedeutet das, dass wenn der Zwiebelfisch dem Dativ die Schuld am Tod des Genitivs zuschreibt, er zugleich den Dativ an der Stelle des Genitivs als schlechtere Variante darstellen muss.

Unsicherheiten führen zu Urteilen

Wichtig zu verstehen ist dabei, dass diese wertenden Urteile über die Richtigkeit der Sprache schon lange nicht mehr aus der Sprachwissenschaft kommen. Zeitgenössische Sprachwissenschafter*innen schreiben keine Regeln vor. Sie arbeiten also nicht präskriptiv. Sie beschreiben, was in der Kommunikation mit Sprache passiert. Sie arbeiten deskriptiv.

Präskriptive Werke mit Beispielen für die Anwendung sind aber auch heute noch sehr gefragt. Und zwar neben Wörterbüchern und Grammatikbüchern auch Sprachratgeber, wie die von Bastian Sick. Weil sie unsere Unsicherheiten beseitigen, und ganz nebenbei auch noch amüsant zu lesen sind, sie unterhalten.

Ein Fakt, den auch Sick nicht verschweigt. Er möchte mit seiner Kolumne und seinen Büchern in erster Linie unterhalten. Fakt ist aber auch, dass er — oft stillschweigend — von einer kultivierten Standardnorm ausgeht, die er als Sprachpfleger, selbsternannter wohlgemerkt, kennt, und an uns, die einfachen Sprachverwender*innen weitergibt.

Wie wird (Standard-)Sprache dokumentiert?

Dabei ist es, wenn man sich genauer damit beschäftigt, gar nicht so leicht, um nicht zu sagen unmöglich, die Gesamtheit der Regeln dieser Standardsprache zu kennen. Ganz abgesehen davon, dass sowohl das Konzept als auch die Existenz einer Standardsprache aus wissenschaftlicher Sicht differenziert zu betrachten ist.

Auch die Standardsprache, weil Standardsprache, ist ständig Änderungen unterworfen. Manche passieren eben schneller, manche langsamer. Instanzen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diesen Standard zu dokumentieren, um dann als Referenzwerke zu dienen, können aufgrund der Natur der Sache nur Momentaufnahmen sein. Im deutschsprachigen Gebiet steht hier ganz vorn zweifelsfrei der Duden. Sprache wandelt sich kontinuierlich und unaufhörlich. Eine Grammatik zu schreiben — und dann eben ein Grammatikbuch zu schreiben — braucht Zeit. Und mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ist diese Grammatik auch schon wieder veraltet. Außerdem beschränken sich diese Referenzwerke meist auch nur auf den geschrieben Standard. Frei nach dem Motto: Jeder redet, wie er will! Die gesprochene Sprache spielt auch im besten Grammatikbuch keine besonders große Rolle.

Das führt dann bisweilen dazu, dass sich die Sprecher*innen in Zweifelsfällen eher an den plakativen Urteilen von Laienwissenschaftler*innen à la Zwiebelfisch orientieren als an den von der deutschen Sprachgemeinschaft selbst zur höchsten Instanz in Sachen Zweifelsfälle erhobenen Duden.

Richtig oder falsch. Wer hat recht?

Wie zum Beispiel wenn es um die richtige Verwendung von wo geht. Das Wort wo kann auf Deutsch nicht nur als Fragewort verwendet werden: Wo habt ihr euch kennengelernt? sondern auch als Relativadverb in einem Nebensatz. Also: Das war im Dorf, wo meine Eltern wohnen. oder Das war der Moment, wo es klick gemacht hat.

Wenn es aber nach einer Studie von 2000 bzw. 2005 an süddeutschen Schulen geht, würden einige Sprachratgeber und der Großteil der damals befragten Lehrer*innen den zweiten Satz, also der Moment, wo es klick gemacht hat als Fehler werten. Wo mit einem zeitlichen Bezug der Moment, wo ist also für viele nicht akzeptabel. Der Duden auf der anderen Seite lässt im selben Zeitraum jedoch beide Konstruktionen zu, und zwar nicht nur umgangssprachlich, sondern ausdrücklich standardsprachlich.

Woher diese tiefe Abneigung in der Bevölkerung gegen den temporalen Gebrauch von wo kommt, ist unklar. Da sich auch in früheren Grammatiken keine Hinweise auf eine Stigmatisierung des temporalen wo finden lässt, kann man davon ausgehen, dass das Werturteil in diesem Fall aus der Bevölkerung selbst kommt. Und so schließlich Eingang in die laienlinguistische Literatur gefunden hat.

Aber warum ist es uns eigentlich so wichtig, sprachliche Varietäten oder Varianten zu bewerten?

Sprache: Eine Frage der Einstellung?

Die Art und Weise zu sprechen dient uns Menschen dazu, andere Menschen bestimmten Gruppen zuzuordnen. Hören wir einen bestimmten Akzent, Dialekt oder Fachjargon, wissen wir meist sofort, in welche Schublade wir den Sprecher oder die Sprecherin stecken müssen. Chinese, Kärntner, Kassiererin. Das passiert ganz automatisch. Ob wir es wollen oder nicht.

Die Welt um uns herum ist unglaublich komplex, und um mit dieser Komplexität umgehen zu können, muss unser Gehirn die unzähligen Eindrücken im Laufe eines Tages abstrahieren, klassifizieren. Das Bilden von Gruppen (Menschen aus China, Einwohner Kärntens, Frauen, die im Supermarkt arbeiten) und das Einordnen neuer Eindrücke in bereits bestehende Gruppen sind vereinfachende Prozesse, aber sie sind notwendig, um unser Gehirn bei seiner Arbeit nicht zu überfordern.

Genauso verfahren wir nun auch mit vermeintlichen Grammatik- oder Rechtschreibfehlern zum Beispiel. Als Muttersprachler*innen sind wir mit einem ausgeprägten Normverständnis aufgewachsen. Wir haben es von unseren Lehrer*innen, Eltern und den Medien vorgelebt bekommen. Wer sich bilden kann und möchte, spricht Hochdeutsch. Alle anderen sind genau das, also anders. Sie werden an ihrer abweichenden Sprache erkannt, weil die Abweichungen von der Standardsprache sofort mit schlechtem Deutsch gleichgesetzt werden.

Und das, ist potenziell gefährlich. Denn wenn wir andere, aber auch uns selbst, allein aufgrund der Sprache auf- oder abwerten, tragen wir die falsche Trennung zwischen richtiger und schöner Hochsprache auf der einen Seite und falscher und schlechter Alltagssprache auf der anderen Seite nur noch weiter.

An der Entwicklung eines toleranteren und gleichzeitig entspannteren Sprachbewusstseins im Hinblick auf unsere Muttersprachen gehört also eigentlich schon im Elementarbereich gearbeitet, also in der Volksschule, im Kindergarten, wenn möglich.

Sprache entsteht durch und ist Handeln.

Sie ist — in letzter Instanz — Tätigkeit. Sie ist kein unabänderliches Gebilde, wie diese unkaputtbaren Büchlein für Kleinkinder, an denen gekaut, geschleckt und gerissen werden kann, ohne das die schmalen Heftchen daran nennenswerten Schaden nehmen würden. Wenn schon, dann ist Sprache eine Zwiebel. Und wenn wir an dieser Zwiebel kauen, schlecken oder reißen, verändern wir sie. Steter Wandel gehört also zum Wesen unserer Zwiebelsprache.

Mit Sprachwissen gegen Vorurteile

Die Reaktionen auf Ungewohntes und neue Erscheinungen, also auf sprachliche Varietäten und Phänomene des Sprachwandels, sind bei vielen aber trotzdem heftig. Okay, wer hat sich nicht schon einmal über das fehlende n nach einen Asteroid in seinem Lieblingspodcast geärgert? Und ja, wem stellen sich nicht die Haare auf bei Formen wie sie ist geschlafen, er braucht nicht kommen oder gestern um acht, wie ich aufgestanden bin.

Warum es zu solchen Reaktionen kommt, habe ich ja eben in dieser Folge versucht zu erklären. Artet eine solche Reaktion aber von einer stillen individuellen ästhetischen Bewertung zu einer bloß lauten und wenig durchdachten Predigt in Form von großflächigen Unterschriftenaktionen oder populärwissenschaftlichen Sprachratgebern aus, die ohne jeglichen wissenschaftlichen Anspruch verfasst worden sind, dann ist es wichtig und notwendig, Aufklärungsarbeit zu leisten. Damit dadurch nicht mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird.

Zum Glück aber sind Bemühungen, sprachpflegerisch in die Sprachentwicklung einer natürlichen Sprache einzugreifen, vergeblich. Das zeigt die Erfahrung. Natürlich, manche Neuerungen setzen sich schlussendlich nicht durch. Aber nicht aufgrund von sprachkritischer Propaganda. Und auch das Gegenteil ist der Fall: Retten lässt sich das gute Hochdeutsch durch solcherlei Bemühungen ebenfalls nicht. Kurzum: Sollte der Genitiv untergehen, wird der das tun, so oder so. Und zwar weil er der deutschen Sprachgemeinschaft mehrheitlich auf den Wecker geht. Und nicht, weil sich mit ihm gut Bücher verkaufen lässt.

Der Schaden, den der Zwiebelfisch und Co. anrichten, betrifft den persönlichen Bereich. Das Durchforsten von Sprachratgebern nimmt den Leser*innen nämlich nicht die Unsicherheit beim Sprechen oder beim Schreiben. Im kommunikativen Alltag, in der gesprochenen Sprache, also dort, wo sich der Großteil unserer Alltagskommunikation abspielt, dort bleiben die im Buch als Fehler gebrandmarkten Zweifelsfälle, dialektalen Varianten und Formen der gesprochenen Standardsprache bestehen. Weil sie keine Fehler sind, sondern wesentlicher und notwendiger Teil einer jeden vitalen, lebenden Sprache.

Was passiert, ist, dass sich die Leser*innen in den Sprachbeispielen wiedererkennen und im besten Fall nur schlecht belehrt werden, sich im schlechtesten aber stigmatisiert, zurechtgewiesen und in ihrem Sprachgebrauch defizitär fühlen. Und das zu Unrecht.

Viele Menschen wollen schön sprechen und richtig schreiben. Ein vollkommen legitimes, ja, fast ein nobles Ziel. Nur:

Schön ist nicht gleich Hochsprache und richtig ist nicht gleich Norm.

Sprachliche Variation und der enorme Varietätenreichtum im deutschsprachigen Gebiet, das ist schön und richtig, eben richtig schön.

Weiterführende Links

  • Zum Thema sprachliche Varietät: ein Interview mit Jutta Ransmayer über die Entwicklung der deutschen Sprache in Österreich und die starke identitätsstiftende Funktion von Sprache.
  • In seinem Kommentar zum angeblichen Verfall der Sprache erklärt Manfred Glauginger, warum Sprachwandel bei vielen für Verlustängste sorgt, während er in der Sprachwissenschaft als völlig natürlicher Prozess beschrieben wird.
  • Nübling et al. geben einen umfangreichen Einblick in Phänomene des Sprachwandels auf den unterschiedlichen Sprachebenen. (Vorschau)