Bildung ist für alle da

Bildung ist ein Menschenrecht. Eigentlich. Lesen und Schreiben wird von vielen als Kulturgut bezeichnet, und ist aus dieser Perspektive als zentrale Form von Bildung anzusehen. Dennoch gibt es auch in sogenannten “entwickelten” Ländern wie Österreich (immer noch) Menschen, die geringe Schriftsprachkompetenzen aufweisen. Diese Menschen in der Bringschuld gegenüber jener Gesellschaft zu sehen, in der sie leben, ist auch heute noch gang und gebe. Nur leider trotzdem falsch.

In diesem Beitrag zeichne ich in groben Zügen den österreichischen Weg im Bereich der Alphabetisierungspädagogik nach und lege dabei einen Schwerpunkt auf die Sprache, die zur Beschreibung von Situationen extremer Bildungsbenachteiligung verwendet wird. Denn ein Blick auf die Entwicklung der Begriffe, die immer wieder auftauchen, wenn über diverse soziale Problemlagen gesprochen wird, legt meist auch die verschiedenen Herangehensweisen an die entsprechenden Probleme offen. Sprechen wir über Erderwärmung bewerten wir die Dringlichkeit klimapolitischer Maßnahmen vermutlich anders, als wenn wir von einer Klimakatastrophe sprechen würden. Ein Kurs für Analphabeten hat mit Sicherheit andere Daseinsgründe als ein Kurs für Menschen mit Bildungsbenachteiligung.

Sowohl im öffentlichen als auch im fachlichen Diskurs haben sich in den letzten Jahrzehnten mitunter sehr unterschiedliche Begriffe etabliert, um über das Phänomen Analphabetismus/Bildungsbenachteiligung zu sprechen. Es zeichnet sich jedoch — zumindest in den einschlägigen Fachbereichen — ein Weg von einer individualisierenden und defizitorientierten Sichtweise hin zu einer subjekt- und ressourcenorientierten Perspektive ab, die Lesen und Schreiben erstens als soziale Praxis auffasst und zweitens systematische Mechanismen der Exklusion aufzeigt, die sich in institutionellen Normen und strukturellen Rahmenbedingungen manifestieren.

Wie so häufig hinkt der öffentliche (politische, mediale usw.) Diskurs jedoch der wissenschaftlichen Erkenntnis hinterher. Welche Begriffe zirkulieren aktuell rund um das Thema Schriftsprachkompetenzen, und welche Grundhaltungen stecken hinter diesen? Diese Fragen möchte ich heute beantworten.

Begriffsfindung in Österreich

Wenn im öffentlichen Diskurs über gesellschaftliche Teilhabe gesprochen wird, gewinnt Bildung zunehmend an Bedeutung. Wir bezeichnen uns als Wissensgesellschaft und bemühen uns um lebenslanges Lernen. Lesen und Schreiben zu können sehen wir gemeinhin als Kulturtechnik, die uns den Zugang zu und das Handeln an gesellschaftlichen Orten (Schule, Arbeitsmarkt usw.) ermöglicht. Menschen, die Lücken in Schriftsprachkompetenzen aufweisen, werden in diesem Zusammenhang für gewöhnlich als (funktionale) Analphabet*innen bezeichnet.

Der Begriff Analphabetismus orientiert sich jedoch an den vermeintlichen Defiziten der betroffenen Erwachsenen. Diese Herangehensweise lässt  und welche Maßnahmen gegebenenfalls ergriffen werden. Liest man also von Analphabetismus, ist davon auszugehen, dass eine individualisierende, defizitorientierte Perspektive eingenommen wird. Die Problematik wird in erster Linie auf Seiten der Betroffenen verortet. Dadurch entziehen sich gesellschaftliche Institutionen ihrer Verantwortung, systematischen Benachteiligungen von diversen Personen(-gruppen) im Bildungsbereich entgegenzuwirken.


Eine frühe Beschreibung dieses gesellschaftlichen Phänomens nimmt eine klassische Dreiteilung vor.

Primärer Analphabetismus

Schriftsprachkompetenzen konnten aufgrund fehlender Möglichkeiten (z. B. kein Schulbesuch) nicht angeeignet werden.

Sekundärer Analphabetismus

Schriftsprachkompetenzen wurden aufgrund von fehlender Anwendung wieder verlernt, es bestehen gravierende Schriftsprachmängel.

Funktionaler Analphabetismus

Schriftsprachkompetenzen sind vorhanden, liegen aber unter dem von einer bestimmten Gesellschaft definierten Mindeststandard.


In der Praxis wird der Begriff (funktionaler) Analphabetismus aufgrund seines diskriminierenden und stigmatisierenden Charakters abgelehnt. Mit dem Begriff der Basisbildung (auch: Grundbildung, Alphabetisierungspädagogik) rücken nun zwar gesellschaftliche Bedingungen stärker in den Fokus, doch die Orientierung an sozial konstruierten Mindeststandards für die Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen bleibt. Es kommt zudem zu einer drastischen Erweiterung sogenannter Grundkompetenzen. Auch Rechnen, Kommunikation, Computergrundkenntnisse, Unternehmergeist, das Verständnis der technologischen Kultur, die Bereitschaft weiterzulernen usw., gelten hier als notwendig, um sich produktiv in Gesellschaft (und Wirtschaft) zu integrieren.

Im Gegensatz zu diesen beiden defizit- (Analphabetismus) und kompetenzorientierten (Basisbildung) Termini fokussiert der englischsprachige Begriff Literacy (Literalität) verstärkt auf der Einbindung schriftsprachlichen Handeln in gesellschaftliche Interaktionen und soziale Strukturen. Der Begriff wurde bereits Mitte der 1980er-Jahre im angelsächsischen Raum geprägt. Eine deutschsprachige Rezeption der Ansätze der New Literacy Studies blieb zunächst jedoch aus. Der konkrete Gebrauch von Schriftsprache wird hier in soziale Praxen eingebettet beschrieben, wodurch er vielfältige Formen annehmen kann.  Vertreter*innen dieser Perspektive betrachten Literalität nicht als individuelle Kompetenz, sondern als Ressource, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Beziehungen eingesetzt werden kann. Es steht nun nicht mehr der Text, sondern das sprachliche Handeln im Mittelpunkt.

Es wird nicht mehr nur eine einzige Literalität angenommen, sondern eine Vielzahl, wobei jene Form als dominant anzusehen ist, die von machtvollen sozialen Institutionen wie etwa dem Bildungssystem zum allgemeinen Maßstab erklärt wird.

Ausgehend von diesen Überlegungen können geringe Schriftsprachkompetenzen nun als komplexes soziales Problem beschrieben werden, das ressourcenorientierter Interventionskonzepte bedarf. Aus dieser subjektorientierten Perspektive bilden geringe (aber vorhandene) Schriftsprachkompetenzen den Ausgangspunkt einer Weiterbildungsmaßnahme, wobei der Endpunkt nie ein von außen vorgegebener Standard schriftsprachlicher Kompetenz ist, sondern immer die Erfüllung individueller Bildungsbedürfnisse und -bedarfe. Im Anschluss an die Erkenntnisse der New Literacy Studies suchen die Vertreter*innen dieses Ansatzes die Ursachen für die Benachteiligung in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (anstatt in individuellem Versagen) und entwickeln Interventionskonzepte, die zudem der Heterogenität der Zielgruppe gerecht werden. Dadurch soll einerseits der Stigmatisierung der Betroffenen entgegengewirkt und andererseits der Komplexität des Phänomens Rechnung getragen werden.

Wie sagt man jetzt?

Darauf gibt es leider keine einfache Antwort. Wie wir über die Dinge und Zustände dieser Welt sprechen, hängt unter anderem auch davon ab, was wir von ihnen wissen. Bildungsbenachteiligte Personen zu erkennen, zu benennen und schließlich anzusprechen stellt den fachlichen sowie den öffentlichen Diskurs vor große Herausforderungen. Wir können aber das Beste aus dem Diskurs der letzten Jahrzehnte zusammennehmen und unsere Begriffe darauf aufbauend kontinuierlich an aktuelle Erkenntnisse der Bildungs-, Sozial- und Diskursforschung anpassen.

Tipps für sensiblen Sprachgebrauch

      • defizitorientierte Bezeichnungen vermeiden
      • Schriftsprachlichkeit als gesellschaftliche Praxis beschreiben
      • diskursive Machtbeziehungen hinterfragen
      • ausgrenzende gesellschaftliche Strukturen offenlegen
      • Normen und Mindeststandards als sozial konstruiert beschreiben

Weiterführende Links

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