Frauen und Geschlecht

Heute geht es wieder einmal darum, wie wir sprechen. Denn: Heute schauen wir wieder einmal nach, was sich so in der deutschen Grammatik tut. Und wie sich herausstellen wird, tut sich da ganz schön viel. Zumindest viel, was uns gar nicht bewusst ist. Wie so oft in der Grammatik.

Themen, wie das der heutigen Folge werden in der Öffentlichkeit viel zu oft als feministische Hirngespinste oder als wissenschaftlich nicht haltbar abgestempelt. Nicht nur von Menschen, die oft nicht die geringste Ahnung davon haben, wovon sie reden. Aber ja: Stichwort, Sprache geht uns alle an, offensichtlich. Auch in akademischen Kreisen wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Grammatik und Geschlecht oft belächelt, wenn nicht sogar für ungültig erklärt, weil sie vom weiblichen Standpunkt aus passiert und daher nicht „objektiv” sein kann.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Grammatik und Geschlecht wird oft belächelt, wenn nicht sogar als ungültig erklärt, weil sie vom weiblichen Standpunkt aus passiert, und deswegen nicht “objektiv” sein kann.

Und vielleicht eines noch vorweg: Die Folge gibt es nicht, weil heute Weltfrauentag ist. Die Folge gibt es, weil Weltfrauentag ist, weil an den anderen 364 Tagen im Jahr zu wenig über Frauen geredet wird. Und ja, das ist auch der Grund, warum ich heute beschlossen habe, von Geschlecht zu sprechen. Und nicht, wie ich das ja auch hätte machen können, von Gender. Man kann, und sollte auch, grundsätzlich zwischen Geschlecht und Gender unterscheiden. Mit Geschlecht, also Sexus, in der Grammatiksprache, damit wäre dann das biologische Geschlecht gemeint, und mit Gender die daran andockenden Praktiken der Geschlechtsdarstellung, also mehr oder weniger alles das, was unter Doing gender fällt.

Da es aber heute weniger um Praxis geht, sondern eigentlich nur um Strukturen hab ich mich dazu entschlossen, die “klassische” Unterscheidung zwischen Genus und Sexus, also dem grammatischen und dem biologischen Geschlecht, einfach zu übernehmen. Eine Unterscheidung die vor allem in der germanistischen Grammatiktheorie im Vordergrund steht, die aber auch in der genderlinguistischen Forschung gemacht wird. Damit nehme ich auch bewusst — zwar nicht gern, aber bewusst — eine binäre Perspektive ein. Ein (veraltetes) Weltbild, in dem es zwei, und zwar genau zwei, Geschlechter zu geben scheint, die klar voneinander abzugrenzen wären und denen sich die Menschen (angeblich) eindeutig zuordnen könnten.

Das heißt auch: Ja, heute geht es konkret um Frauen — und Männer. Aber hauptsächlich um Frauen. Mehr noch: Ich möchte diesen Beitrag all jenen Frauen widmen, die gute und wertvolle Forschung betreiben, egal in welchem Fach, und wenn nicht tagtäglich, dann zumindest viel zu oft für ihren (weiblichen) Standpunkt kämpfen müssen, in einer Sprache, noch dazu, die sie strukturell zusätzlich in den Hintergrund drängt.

Für alle, für die das gerade zu politisch war als Ansage: Jetzt kommt der lustige Part, jetzt kommt die Grammatik.

Das grammatische Geschlecht im Deutschen

Wir werden heute über eine sehr tiefe Sprachebene sprechen, nicht nur weil es um Grammatikstrukturen geht, die ja von vorn herein schon einmal zum strukturellen Kern einer Sprache gehören, sondern auch weil es sich um ein Gebiet handeln, das sich im Alltag unserer Wahrnehmung mehr oder weniger komplett entzieht. Bei Grammatik und Geschlecht denken vielleicht viele von euch spontan an die grammatischen Geschlechter, den Genus, wie wir so schön sagen, also maskulin, feminin, neutrum. Also das, was man meist an den Artikeln erkennt: der, die, das und so weiter.

Das ist natürlich auch aus einer genderlinguistischen Perspektive sehr spannend, da wird auch sehr viel dazu gemacht, zum Beispiel zu Fragen, wo es dann darum geht, warum so viele pejorative, also abwertende, Frauenbezeichnungen neutral und nicht feminin sind, das Fräulein zum Beispiel. Oder: Warum schafft es das sogenannte generische Maskulinum nicht einwandfrei, auf Männer und Frauen zu verweisen, wenn es doch generisch ist. Aber diese Fragen sind, vor allem die Sache mit dem generischen Maskulinum mittlerweile doch schon recht gut erforscht. Da ist immer noch ordentlich Luft nach oben, aber es gibt die Forschung bereits.

Was wir uns heute anschauen wollen, ist ein Grammatikkapitel, das zwar eng mit den Genera verknüpft ist, aber noch ein bisschen tiefer im Sprachkern vergraben ist, also noch ein Stückchen weiter unter unserer Wahrnehmungsschwelle liegt. Und zwar ist das die Deklination.

Die Deklination, wir erinnern uns, wir hatten das schon mal in der ersten Staffel, da ging es um die sogenannte n-Deklination, die schwache Deklination von maskulinen deutschen Nomen. Das Thema ist also nicht komplett neu hier im Blog. Aber wer den Beitrag mit der n-Deklination noch nicht kennt, muss sich keine Sorgen machen, alles was wir für heute brauchen, wiederhole ich gleich noch einmal kurz.

Also: Wie war das also nochmal mit der Deklination?

Die Deklination der deutschen Nomen

Deklinieren tun wir auf Deutsch mehr oder weniger immer dann, wenn wir ein Wort — das kann ein Adjektiv sein, ein Artikel, ein Zahlwort und so weiter — in die vier Fälle setzen. Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Also 1., 2., 3. und 4. Fall. Das Ganze können wir im Singular machen, also in der Einzahl oder im Plural, in der Mehrzahl. Das ist nicht immer ganz ohne. Vor allem in meinen DaF-/DaZ-Kursen haben wir oft mit den Adjektivendungen zu kämpfen: mit der schwere Grammatik oder mit der schweren Grammatik? Ganz abgesehen davon, dass der Genus allein, also das grammatische Geschlecht quasi, maskulin, feminin oder neutrum, schon eine echte Herausforderung ist.

Und damit sind wir auch schon mitten drin im heutigen Thema:

Im Fokus stehen heute nicht die Artikel oder die Adjektive, sondern die Nomen, die Substantive. Um die Nomen richtig zu deklinieren, brauchen wir auf der einen Seite den Genus, also das grammatische Geschlecht. Und auf der anderen Seite brauchen wir zum Deklinieren noch die Pluralform, wir müssen also wissen, wie die Mehrzahl geht. Wenn wir ganz genau sind, müssten wir auch noch wissen, wie der Genitiv, also der zweite Fall, in der Einzahl lautet, aber das würde den Rahmen des heutigen Beitrags sprengen.

Für uns im Alltag ist das Deklinieren von Nomen keine allzu große Hexerei auf Deutsch. Das haben wir  schon in der Folge zur Schwachen Deklination gehört: Das deutsche Kasussystem ist im Vergleich zu früheren Sprachstufen — aber auch im Vergleich zu anderen indoeuropäischen Sprachen — deutlich weniger ausdifferenziert. Wenn wir einmal vom Genitiv absehen, der Substantiven manchmal ein -(e)s verleiht, oder vom Dativ, der im Plural immer auf ein -n endet.

die Kinder, die Kinder, den Kindern, der Kinder

Also abgesehen von diesen beiden Fällen, tut sich bei den Kasusmarkierungen relativ wenig.

Trotzdem können wir heute immer noch — traditionellerweise zumindest — acht unterschiedliche Deklinationsklassen unterscheiden. Das heißt jedes Substantiv kann anhand der Art und Weise, wie es dekliniert wird, in eine der acht Klassen eingeordnet werden. Das ist, wie gesagt, im Alltag zwar wenig relevant, weil sich die Formen heute schon so stark überschneiden. Sie liegt damit weit unter unserer Wahrnehmungsschwelle. Genderlinguistisch ist aber genau das interessant, das Unbewusste quasi.

Wenn man genau hinschaut und eine feministische Sichtweise zulässt, dann erkennt man, dass sich das deutsche Kasussystem verändert. Das ist natürlich normal. Sprachwandel findet auf jeder Sprachstufe statt, auch in der Grammatik. Man beobachtet aber auch, dass diese Veränderungen nicht willkürlich passieren.

Um die Idee der Willkürlichkeit zu verstehen, brauchen wir einen kleinen Exkurs zum Lautwandel.

Phonologischer Lautwandel

Sprachwandel hat oft mit Lautwandel zu tun. Grammatik, wie Dinge zum Beispiel klassifiziert werden, wie das Genussystem aussieht, wie das Deklinationssystem aussieht, hängt oft damit zusammen, wie sich eine Sprache lautlich entwickelt. Wie Dinge ausgesprochen werden, verändert sich natürlich im Laufe der Geschichte. Wenn wir beim Deutschen bleiben: Die Aussprache vom Althochdeutschen (ca. 750–1050), über das Mittelhochdeutsche (ca. 1050–1350) bis ins (Früh-)Neuhochdeutsche (1350–1650 bzw. ab 1650) hat sich systematisch nach bestimmten Regeln verändert. Wenn sich Wörter mit der Zeit anders anhören, kann es dazu kommen, dass sie auch grammatisch anders eingeordnet werden.

Aber dieser phonologisch motivierte Wandel der greift nicht bei allen Phänomen. Manche Veränderungen in der Grammatik lassen sich nicht allein über Lautwandel erklären. Wir werden heute sehen, wie das alles mit der Verbindung von Grammatik und Geschlecht zusammenhängt. Oder konkreter: Wie sich das Geschlecht auf die grammatischen Kategorisierungen auswirken kann. Und um noch ein bisschen konkreter zu werden: Wie sehr die Kategorie Mensch+männlich die Veränderungen in diesem Kasussystem beeinflusst.

Aber bevor wir uns ansehen können, wie genau das alles funktioniert, müssen wir noch ein paar Grundbegriffe erörtern, die wir brauchen, um diese Zusammenhänge zu verstehen

Grundbegriffe

Ein Begriff, der im Folgenden immer wieder auftauchen wird, ist der der Kasusmarkierung. Kasus ist ja, das haben wir heute ja schon gehört, ein grammatischer Fall. Auf Deutsch haben wir aktuell gerade vier: Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Klassischerweise auch in dieser Reihenfolge. Kasus, also in welchem Fall wir uns gerade befinden, kann auf Deutsch mit unterschiedlichen Mitteln markiert werden. Typischerweise sind das bestimmte Endungen — das -n im Dativ Plural (den Männern, den Kindern), wie wir oben gesehen haben, oder das Genitiv-s bei maskulinen oder neutralen Nomen (des Mannes, des Kindes).

Eine andere wichtige Unterscheidung betrifft die Rollenanzeige, die mit den vier Fällen ausgedrückt werden können. Kurz gesagt: Wir unterscheiden nicht zum Spaß zwischen Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ, das würde schließlich gegen das ökonomische Prinzip von Sprache sprechen. Jeder einzelne Fall hat eine bestimmte Funktion, übernimmt eine bestimmte Funktion im Satz. Oder anders gesagt: Wenn wir ein Nomen im Nominativ verwenden, dann verleihen wir ihm eine andere Rolle, als wenn wir es im Akkusativ zum Beispiel verwenden würden.

Machen wir ein Beispiel. Nehmen wir das Wort der Mann.

Der Mann grüßt die Präsidentin. (Nominativ)
Der Mann ist derjenige, der hier aktiv etwas tut: er grüßt. Seine Rolle in diesem Satz ist also aktiv. Das nennt man in der Sprachwissenschaft Agens. Und das ist auch einer der beiden Begriffe, die heute noch ganz wichtig sein werden, wenn es um die Rollenanzeige in der Grammatik geht.

Der andere Begriff ist der des Patiens. Das klingt so ähnlich wie Patient, und nicht zufällig. Der Patient bzw. die Patientin ist eine Person, die, wenn sie krank ist, in die Arztpraxis geht, damit man ihr dort hilft. Sie wünscht sich also eine — wenn möglich positive — Beeinflussung durch eine ärztliche Behandlung. Die Behandlung soll ihren Zustand also zum Positiven verändern. Und genauso ist das auch in der Grammatik. Der Patiens ist nicht dasjenige Element, das im Satz etwas tut, es ist dasjenige, dem etwas passiert. Es ist also der- oder diejenige, der oder die von einer Handlung betroffen ist.

Die Präsidentin grüßt den Mann. (Akkusativ)
Wir hören also sehr deutlich am Artikel den, welche Rolle der Mann diesmal spielt. Er ist diesmal passiv, also derjenige, der gegrüßt wird.

Die beiden anderen Fälle, Dativ und Genitiv, haben natürlich auch ihre je eigenen Funktionen. Der Dativ, der dritte Fall, bezeichnet heute eine Sache oder eine Person, die etwas erhält oder von etwas profitiert. Man spricht hier dann von Rezipiens. Und der Genitiv drückt Zugehörigkeit oder Besitz aus.

Das ist ein großer Unterschied zu anderen Sprachen, zum Beispiel dem Englischen, wo es mittlerweile kein Kasussystem mehr gibt. Da es keine Möglichkeit mehr gibt, Rollen im Satz über morphologische Strukturen anzuzeigen, das heißt über Endungen am Wort selbst, muss eine Sprache wie Englisch (unter anderem) auf die Wortstellung ausweichen. Genau deswegen ist auch die Position der Wörter im Satz auf Englisch viel strikter als im Deutschen.

Schließlich möchte ich noch einen dritten Begriff erwähnen, bevor wir zu den Deklinationsklassen kommen, die in genderlinguistischer Hinsicht aussagekräftig sind, und zwar: Belebtheit. Substantive können grob auf einer Skala von menschlich, über belebt, bis unbelebt eingeordnet werden. Einfaches Beispiel: der Mensch (menschlich), die Maus (belebt), das Haus (unbelebt).

Im Deutschen wird das zwar in der Alltagsgrammatik ignoriert. Um grammatisch korrekt zu sprechen, brauchen wir die Information über die Belebtheit eines Objekts bzw. einer Person nicht. Um ein Nomen einer der acht Deklinationsklassen zuzuordnen, ist diese Information aber durchaus relevant. Und aus genderlinguistischer Perspektive sogar noch mehr, weil wir feststellen können, dass Substantive, die dem Menschen näher stehen, anders klassifiziert werden, als Substantive, die in die Kategorie kaum oder nicht belebt fallen.

Deklinationsklassen

Gehen wir also direkt zurück zur Deklination. Auf Deutsch unterscheiden wir traditionell immer noch 8 verschiedene Deklinationsklassen. Vier davon werden wir uns heute ein bisschen genauer anschauen, weil sich hier in den letzten Jahrhunderten viel getan hat und weil sie genderlinguistisch besonders relevant sind.

Da sind auf der einen Seite die gemischten und die starken Feminina und auf der anderen Seite die starken und die schwachen Maskulina. Wir erinnern uns, stark heißt auf Deutsch immer unregelmäßig, schwach regelmäßig. Und mit gemischt ist meist gemeint, dass hier sowohl regelmäßige als auch unregelmäßige Elemente vorkommen. Das wird alles noch klarer werden.

Die gemischten Feminina

Beginnen ein bei den gemischten Feminina. Gemischt heißt in diesem Fall nichts anderes, als dass diese Nomen im Singular, also in der Einzahl, stark dekliniert werden, im Plural allerdings schwach.

Die gemischten Feminina sind heute eine sehr große Klasse. Fast alle weiblichen Substantive zählen hier dazu. Man erkennt sie daran, dass sie in der Einzahl keinerlei Kasusmarkierungen haben, auch nicht im Genitiv.

die Frau, der Frau, der Frau, die Frau

Das ist übrigens bei allen Feminina so, egal zu welcher Klasse sie gehören. Und der Plural endet immer auf -n oder -en.

Wir hören auch, die weiblichen Artikel sind auch nicht wirklich ausdrucksstark. Sowohl Nominativ und Akkusativ (die) als auch Genitiv und Dativ (der) lauten hier gleich. Auch das gilt prinzipiell für alle Feminina.

Die starken Feminina

In der starken Klasse der Feminina befinden sich heute nur mehr ca. 35 Substantive. Keines davon hat eine Kasusmarkierung in der Einzahl, und alle enden in der Mehrzahl auf -e und haben dort einen (phonologischen) Umlaut.

Und von diesen etwa 35 Wörtern sind nicht mehr viele belebt. Wir erinnern uns: Belebt heißt menschlich bzw. näher am Menschen. Das heißt in dieser Klasse finden wir kaum noch Frauenbezeichnungen. Eventuell noch die Braut, der Braut, die Bräute.

Allerdings hat die Abwanderung von Wörtern aus der starken in die gemischte feminine Klasse eigentlich nichts mit Belebtheit an sich zu tun. Das heißt, feminine Wörter wechseln nicht die Klasse, weil sie belebt oder unbelebt sind. Das ist übrigens auch bei den Neutra (sächliche Substantive) so.

Die starken Maskulina

Bei den Maskulina sieht die Sache allerdings schon ganz anders aus. In der Klasse der starken Maskulina und Neutra  In dieser starken Klasse der Maskulina auf jeden Fall haben alle Nomen im Genitiv Singular ein -s und im Plural immer ein -e. (Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass Maskulina und Neutra sich zum Teil Deklinationsklassen teilen. Feminina haben jedoch immer eine eigene.)

der Arzt, des Arztes, die Ärzte

Was man hier an diesem Beispiel auch schon sehr schön sieht, ist, dass manche Maskulina im Plural zusätzlich einen Umlaut bekommen. Also bei Arzt wird aus dem a ein ä. Die neutralen Substantive in dieser Klasse bekommen allerdings nie einen Umlaut.

Das legt schon die Vermutung nahe, dass dieser Umlaut irgendwie mit Belebtheit zu tun hat. Diese Hypothese verhärtet sich zusätzlich, wenn man sich die “jüngere” Geschichte (seit dem Mittelhochdeutschen) der umlauffähigen Maskulina ansieht. Diese Maskulina waren ursprünglich einmal geteilt in zwei verschiedene Klassen, und zwar nach lautlichen Kriterien. Die Substantive, die mit a aufgehört haben im Althochdeutschen keinen Umlaut bekommen, die, die auf i aufgehört haben, schon.

Zwei Beispiele aus dem Neuhochdeutschen:

Tag —  Tage, aber Gast — Gäste

Soweit so gut. Das ist ein rein lautliches Phänomen. Man spricht hier von einem phonologischen Umlaut. Im Laufe des Mittelhochdeutschen hat in dieser zusammengelegten Gruppe, in der eben noch alles schön lautlich sortiert war, aber eine Umsortierung nach Belebtheit stattgefunden.

Wenn man heute alle umlautfähigen Maskulina dieser Klasse hernimmt und nachsieht, welche Wörter heute noch einen Umlaut haben, dann stellt sich heraus, dass Menschen oder Menschengruppen zu 79% umlauten (Arzt—Ärzte), Säugetiere, die ja von allen Tieren dem Menschen am nächsten sind, zu 66% (Wolf—Wölfe), Vögel nur mehr zu 44% (Hahn—Hähne), Fische, Reptilien, Amphibien und Insekten überhaupt nur noch zu 14% (Frosch-Frösche).

Diese Tendenz ist auch bei Wörtern mit doppelter Bedeutung sichtbar bzw. hörbar: Bund zum Beispiel ist ein solches doppeldeutiges Wort. Wenn man damit Menschengruppen bezeichnet, zum Beispiel Geheimbünde oder Staatenbünde, haben wir den Umlaut, wenn aber zum Beispiel Schlüsselbunde gemeint sind, fehlt er.

Ziemlich deutlich ist auch, dass bei dieser Umstrukturierung Belebtheit offensichtlich eine größere Rolle gespielt hat als die Phonologie. Durch die Umverteilung von diesem Umlaut bei männlichen Substantiven haben heute manche Wörter einen Umlaut, die früher keinen hatten, und umgekehrt.

Mit der Nähe zum Menschen, oder besser — weil es in dieser Klasse ja keine Frauenbezeichnungen gibt, und auch Belebtheit in den femininen Klassen keine Rolle spielt — mit der Nähe zum Mann nimmt der Pluralumlaut offenbar zu.

Das führt manche Linguist·innen dazu, diesen Tendenzen nicht nur eine anthropozentrische, sondern sogar eine androzentrische Weltsicht zugrunde zu legen. Um mit Damaris Nübling zu sprechen: Deklinationsklassen erweisen sich somit quasi als “Speicher sozialer Verhältnisse”. Und das ist insofern wichtig zu benennen, als wir diese Verhältnisse über unser Sprechen, und unser Kommunizieren allgemein, immerfort reproduzieren.

Die schwachen Maskulina

Wie stark die Kategorien Belebtheit, Geschlecht, soziales Prestige und Handlungsmacht in die Organisation von Deklinationssystemen eingebunden sind, zeigt sich am Ende — für heute zumindest — in der Klasse der schwachen Maskulina.

Zu diesen muss ich vermutlich nicht mehr all zu viel sagen, schließlich ist das die Klasse, um die es auch schon in Folge 5 gegangen ist. In dieser Klasse gab es im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen Substantive mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen. All diese Substantive hatten überall, also sowohl in der Einzahl als auch in der Mehrzahl, ein -n oder -en am Ende, außer im Nominativ Singular. Deswegen sprechen wir auch von schwacher Klasse, weil die Formen, bis auf den Nominativ, ganz regelmäßig gebildet werden. Der Nominativ ist die unmarkierte Form, also die Grundform, die Form, die einfach ist, und von der aus dann alle anderen Formen gebildet werden. Was es mit dieser unmarkierten Form auf sich hat, darauf werden wir gleich noch zu sprechen kommen.

Erst noch ein paar Worte zur Klasse der schwachen Maskulina. Ursprünglich waren da auch noch Wörter enthalten wie der brunne, der schade, der schwane, der schlange. Ja, die Schlange war damals noch maskulin. Das werden wir uns gleich ansehen. Semantisch war diese Klasse also durchaus bunt gemischt. Von belebt, bis unbelebt. Erst mit der Zeit hat es dann einen deutlichen Fokus auf männliche Lebewesen gegeben. Dabei sind Substantive, die nicht in dieses Ideal gepasst haben, aus der Klasse abgewandert. Und zwar auf zwei Arten:

Für unbelebte Maskulina auf der einen Seite wurde eine ganz eigene — starke — Klasse geschaffen. Diese Substantive, alles Objekte oder Abstrakta, haben das ursprüngliche -n, das für die schwachen Maskulina typisch ist, auch im Nominativ, dafür haben sie aber, wie für starke Maskulina üblich, ein -s im Genitiv Singular. Der Plural ist mit -n am Ende ist unverändert geblieben. Das sind dann Wörter, die ursprünglich der brunne geheißen haben, und heute eben der Brunnen, des Brunnens und im Plural wieder die Brunnen.

Wir erinnern uns an das, was wir zu Beginn des Beitrags über die Rollenvergabe gesagt haben. Dass der Nominativ eine aktive Rolle im Satz beschreibt, der Akkusativ eine passive. Wenn wir uns jetzt ansehen, was bei den unbelebten Maskulina passiert ist, dann macht diese Migration der unbelebten Substantive in eine eigene Klasse fast Sinn: Bei Objekten und Abstrakta ist es nicht wirklich notwendig, zwischen Agens und Patiens, zwischen handlungsfähig und nicht handelnd zu unterscheiden. Deswegen fällt es auch nicht so schwer ins Gewicht, dass es durch diesen Wechsel plötzlich keinen Unterschied mehr zwischen Nominativ und Akkusativ gegeben hat.

Das Gleiche wird ja auch schon seit jeher bei Neutra gemacht, weil sächliche Substantive generell selten Personen bezeichnen, bei denen es auf der anderen Seite schon sehr sinnvoll und hilfreich ist, zu wissen, wer handelt und wer nicht.

Die Agens-Anzeige bleibt also denjenigen Substantiven vorbehalten, die in der schwachen Klasse geblieben sind. Und das sind nun mal vorrangig Menschen, und weil wir uns ja in einer Klasse für Maskulina befinden, eben männlicheMenschen. Was durchaus ein schöner Nebeneffekt dieser Umgestaltung ist — zumindest für männliche Menschen.

Und da unmarkierte Wortformen, also solche ohne zusätzliche Endung, in der Grammatik eben immer die Grundform sind, den Normalfall quasi darstellen, ist in dieser Männerklasse eben sehr deutlich: Der Mann als Agens, als Handelnder, der Kunde zum Beispiel, wird als grammatischer Normalfall gesetzt, als Patiens (den Kunden) braucht er eine Ableitung von dieser Normalposition.

Normal ist also, wenn der Mann handelt.

Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass schwach belebte Objekte, also Pflanzen, Insekten, Fische, Reptilien und so weiter, die ja auch abgewandert sind, keine eigene Klasse gegründet haben, wie das bei den unbelebten Dingen der Fall war, sondern einfach zu Feminina umkategorisiert wurden. Und zwar sind sie in die gemischte Klasse übergetreten. Das heißt auch, wie wir ja vorhin gesehen haben, dass sie zwischen Nominativ und Akkusativ, also zwischen handelnder und nicht handelnder Person, keinen Unterschied mehr gemacht haben.

Das ist eine generelle Beobachtung für weibliche Substantive, auch in den anderen beiden Fällen. Auch der Genitiv wird bei den Feminina nicht — beziehungsweise nicht mehr — mit einem -s angezeigt. Ähnliches gilt für das alte Dativ-e, wie in das Kind im Manne oder im Walde steht ein Männlein. Dieses e ist generell schon fast verschwunden, aber wenn es noch verwendet wird, dann nur mehr bei Maskulina oder Neutra.

Die Tiere aus der schwachen Klasse, die in dieser anthropozentrischen Sicht dem Menschen näher stehen, unter anderem auch Säuger und Vögel, sind zwar maskulin geblieben, aber eben in die starke Klasse abgewendet. Dort haben sie dann — im Gegensatz zu den Objekten und Abstrakta — in der Regel einen Umlaut erhalten haben, weil sie ja — anders als Objekte und Abstrakta — belebt waren.

Also wir sehen schon, dieses Belebtheitskriterium scheint eine ganz wichtige Sache zu sein, wenn es darum geht, Substantive auf Deutsch zu kategorisieren. Die Frage, die dann aber bleibt, ist, warum das nur für die männlichenKlassen gilt und nicht auch für die anderen.

Neutra beschreiben ja von Haus aus weniger Menschen. Unbelebtes befindet sich äußerst selten in einer handlungsfähigen Position. Auch in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen lauten hier deswegen Nominativ und Akkusativ gleich. Unter den Feminina sind allerdings viele Menschen vertreten. Bis auf wenige, zudem sehr abwertende, Bezeichnungen sind quasi alle Frauenbezeichnungen grammatisch weiblich.

Und ja, natürlich könnte man hier einwenden, dass diese Unterscheidung ja nur noch bei Maskulina in der schwachenKlasse gemacht wird, in der starken Klasse aber nicht mehr. Doch hier tragen zumindest noch Artikel oder Adjektive oder Pronomen eine eindeutige Kasusmarkierung. Das heißt auch wenn wir heute nicht mehr zwischen Arzt im Nominativ und Arzt im Akkusativ unterscheiden können, so sehen wir den Unterschied im Satz meist immer noch sehr deutlich. Dort heißt es dann zum Beispiel: Der Arzt behandelt seine Patient·innen gut. Hier tut er etwas. Aber Die Patient·innen mögen den Arzt sehr gern. Hier ist er nicht die handelnde Person im Satz. Wenn wir noch einmal das Beispiel vom Anfang hernehmen, das mit der Präsidentin, dann sehen wir, dass es keinen Unterschied macht, ob wir bei weiblichen Substantiven einen Artikel verwenden oder nicht. Präsidentin Nominativ, Präsidentin Akkusativ. Die Präsidentin grüßt den Mann. Nominativ. Der Mann grüßt die Präsidentin. Akkusativ. Wir hören in keinem Fall einen Unterschied.

Kühne Hypothesen

Warum hat sich also bei den Feminina die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Nominativ und Akkusativ nirgends erhalten, so wie bei den schwachen Maskulina? Weder beim Substantiv, noch beim Artikel oder irgendwo sonst? Und mehr noch: Warum scheint diese riesige Klasse der gemischten Feminina zu einem Sammelbecken für alles schwach Belebte zu werden?

Liegen diesen Phänomenen womöglich nicht nur phonologische und strukturelle Prozesse zugrunde, sondern auch, oder vielleicht sogar vor allem auch, eine historische Ungleichbewertung der Geschlechter? Hat sich der gesellschaftliche Sexismus, der Frauen daran gehindert hat, und es zum Teil heute auch noch tut, Handlungsträgerschaft zu übernehmen, in der Grammatik festgesetzt, wo bei Frauen nun auch grammatisch nicht mehr zwischen Handelnder (Agens) und Erduldender (Patiens) unterschieden wird? Wo Frauen grammatisch gesehen auf der Belebtheitsskala den schwach belebten Lebewesen näher steht als dem Mann?

Kühne Hypothesen, in der Tat.

Nur leider sind all diese Fragen derzeit noch offen. Vermutlich auch, weil Forscher·innen, die auf strukturelle Schieflagen im Zusammenhang mit Sprache und Gesellschaft hinweisen und diese wissenschaftlich erforschen wollen, oft sehr viel Gegenwind zu spüren bekommen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um das generische Maskulinum. Da gehen die Leute nicht nur medial auf die Barrikaden, auch aus dem akademischen Umfeld gibt es immer wieder Gegenpositionen.

Doch der marginalisierte, hier der feministische, Blick auf Forschungsobjekte ist wichtig, um nicht nur gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen, sondern auch, um potentielle Schieflagen in der Forschung selbst aufzuzeigen.

Denn wenn immer nur der dominante, männliche Blick publiziert und rezipiert wird, wie es mittlerweile jahrhundertelang der Fall war, natürlich auch in der Grammatikforschung, dann wird dieser Blick zum Maß aller Dinge, in dem andere Perspektiven keinen Platz finden. Und gerade deswegen ist Forschung hier einmal aus einer vollkommen anderen Perspektive so wichtig. Um zu überprüfen, ob der alte Blick unserem heutigen Wissensstand, zu dem auch marginalisierte Gruppen, zu dem auch Frauen etwas beizutragen haben, noch standhält.

Dass die Männerklasse n-Deklination in der Alltagssprache immer unwichtiger zu werden scheint, weil sich immer weniger Sprecher·innen an die Deklinationsregeln für diese Klasse halten, ist in diesem Zusammenhang vermutlich nur ein schwacher Trost.

Zusammenfassung

Was können wir von heute also mitnehmen: Sprache, auch die Grammatik einer Sprache, ihr allerinnerster Kern, das Heiligtum aller Sprachpurist·innen, verändert sich stetig. Dieser Wandel passiert jedoch in den seltensten Fällen zufällig. Manchmal ist ein phonologischer Wandel die Ursache für grammatische Umstrukturierungen, manchmal sind es analogische Phänomene, manchmal ist es der direkte oder indirekte Einfluss der Sprecherinnen.

Oft ist es auch eine Mischung aus alledem. Mehrere Dinge, die wir heute angesprochen haben, deuten auf so eine Mischung hin: Wir haben einerseits gehört, dass belebte und männliche Substantive tendenziell mehr Umlaute im Plural erhalten haben und wir haben andererseits gehört, dass sich die einzige Deklinatiosnklasse, die wirklich noch an den Substantiven selbst, Agens und Patiens unterscheidet, zu einer reinen Männerklasse zu entwickeln scheint. In der femininen gemischte Klasse spielt so etwas wie Belebtheit, geschweige denn Menschlichkeit, absolut keine Rolle. Abgesehn davon, dass bei Feminina mittlerweile ohnehin nicht mehr zwischen Nominativ und Akkusativ, also zwischen handlungsfähig und nicht handlungsfähig unterschieden wird.

Genau deswegen ist es notwendig und wichtig, Ursachenforschung zu betreiben und nicht Perspektiven, die auf potentielle Verschränkungen zwischen sprachlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit hinweisen, von vorn herein abzublocken.

Grammatik ist natürlich nur ein Teil von dem, was Sprache ausmacht. Aber Grammatik ist auch heimtückisch. Sie schwingt in all dem mit, was uns tagtäglich so über die Lippen geht. Sollte auch nur der kleinste Verdacht aufkommen, dass wir durch unser Sprechen vielleicht tief in den Strukturen unserer Sprache verankerte Geschlechterrollen fortschreiben, sollten wir wenigstens einmal genauer hinsehen. Wenigstens einmal. Wenigstens am Weltfrauentag.

Weiterführende Informationen

  • Das Grammatische Informationssystem des Instituts für Deutsche Sprache stellt einen aufschlussreichen Eintrag (mit Tabellen) zum Thema Deklinations-/Flexionsklassen beim Nomen bereit. Besonders interessant: der Abschnitt zum semantisch motivierten Flexionsklassenwechsel.
  • Mehr zu den vier Deklinationsklassen, die in diesem Beitrag nicht erwähnt wurden, gibt es hier.
  • Die hier im Beitrag erwähnte Einteilung in acht Deklinationsklassen ist in der Theoriebildung nicht unumstritten. In diesem kurzen Artikel wird auf unterschiedliche Erklärungsansätze für die Existenz von Flexionsklassen beim Nomen und die Schwierigkeiten bei der Einteilung in verschiedene Klassen eingegangen.