Wir sind gerade eben in den April gestartet und wie soll es auch anders sein: Heute sprechen wir natürlich über das Lesen. Im April feiern wir gleich zwei besondere Gedenktage rund ums Lesen: Den internationalen Kinderbuchtagam 2. April und den Welttag des Buches und des Urheberrechts am 23. April. Zwei Gründe mehr hier im Blog mal wieder einen Blick auf eines der missverstandensten Themen rund um Sprache zu werfen.

Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen: Einen ersten zum kritischen Nachdenken über das Lesen (den liest du gerade), und einen zweiten mit praktischen Tipps zum Lesen (der folgt in Kürze).

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Wer gern liest, wird auf Deutsch oft als Leseratte bezeichnet. Oder als Bücherwurm. Meine beiden Kinder sind noch Buchwürmchen. Was es mit der deutschen Faszination für grausliges Getier auf sich hat — keine Ahnung. Doch: Das Thema Lesen hat mich in den vergangenen Wochen wieder sehr beschäftigt. Einerseits weil ich selbst sehr viel Spannendes auf meinem Bücherstapel liegen habe und weil sich durch meine Arbeit hier am Podcast mit der Zeit auch wieder eine gewissen Routine in der wissenschaftlichen Lektüre einstellt. Was im Grunde nichts anderes bedeutet als: noch höhere Lesestapel! Andererseits aber auch, weil wir in der letzten Zeit wieder ein bisschen anders mit unseren Kindern zu Hause lesen. Der Nono ist jetzt viereinhalb, die Mimi ist eineinhalb. Wir haben mit beiden Kindern immer schon viel gelesen. (Was auch immer das heißt.) Aber die Leseidee, die ändert sich mit der Zeit.

In einer Lesebiographie verändert sich unser Lesen ohnehin ständig. Was wir als Kinder unter Lesen verstehen, was wir vom Lesen erwarten, ist zum Teil etwas anderes als das, was wir als Erwachsene vom Lesen erwarten. Wir lesen aus unterschiedlichen Gründen, wir lesen unterschiedliche Dinge, wir lesen auf unterschiedliche Art und Weise. Als ganz kleine Kinder lesen wir nicht einmal selbst! Und trotzdem sind Vorleseerfahrungen ganz grundlegende Bausteine unserer Lesesozialisation.

Und bei uns sind eben gerade sowohl der Nono als auch die Mimi in einer ganz wichtigen Transformationsphase, einer Art Übergangsphase, in der sich eben gerade sehr viel verändert.

Genau um diese Dinge soll es heute gehen. Ich möchte in diesem Beitrag darüber schreiben, was der Lesemonat April für uns bedeutet — für mich als Basisbildnerin auf einer theoretischen Ebene, sowie auch für meine Kinder und mich als Mama der beiden. Dabei werde ich zwei ganz unterschiedlichen Blickrichtungen folgen. Nur um dann festzustellen, dass die beiden Perspektiven doch gar nicht so unterschiedlich sind. Ich werde zuerst einen gesamtgesellschaftlichen Blick auf das Lesen als soziale Praxis werfen, und dann darauf eingehen — und zwar am Beispiel vom Nono und von der Mimi —, welche Rolle die Lesesozialisation in der Familie in diesem Zusammenhang spielt.

In diesem Beitrag werde ich mit einem gewohnt kritischen Auge darstellen, welchen Platz, welche Funktionen das Lesen in der Gesellschaft hat, einer “literaten” Gesellschaft wie Österreich zum Beispiel. Im nächsten Beitrag wird es darum gehen, wie sich diese Überlegungen auf das Lesen und Lesenlernen in der Familie auswirken. Was wir als Erwachsene von diesen Überlegungen lernen können und wie wir unsere gemeinsame Lesezeit mit unseren Kindern besser nutzen und sinnvoller gestalten können.

Lesen — Was ist das?

Als Vorbereitung auf diesen Beitrag habe ich online und offline ein bisschen „Feldforschung“ gemacht. Ich habe euch auf meinen Social Media Kanälen gefragt, wie ihr es so mit dem Lesen habt. Was lest ihr? Wie viel lest ihr? Das gleiche hab ich auch bei mir in der Familie gemacht, im Bekanntenkreis. Einfach mal herumgefragt, wie viel heute noch gelesen wird, und was lesen für euch bedeutet.

Hier eine Zusammenfassung eurer Antworten. Vielleicht findet sich der oder die eine darin ja wieder!? Das müssen natürlich nicht die eigenen Antworten sein.

Frage 1. Liest du viel? Di sehr geschlossen formuliert, da es darauf im Grunde nur Ja oder Nein als Antwort gibt. Und im Wissen, dass das Wort “viel” für alle eine andere Bedeutung hat. Grundsätzlich sieht sich aber die Mehrzahl von euch als Viel-Leser·innen.

Frage 2. Was liest du? Für diese Frage habe ich zuerst einmal drei Antworten vorgegeben. Nämlich: „Bücher“, okay, ja, „Anderes“, wobei da, immer auch Beispiele gegeben hab, was das sein könnte anderes. Also keine Ahnung Nachrichten, Paper, Zeitschriften, E-Mails, solche Dinge. Heute lässt sich ja so viel lesen. Allerdings hat hier der Großteil von euch weder Bücher noch Anderes gesagt, sondern die dritte Antwort gewählt, nämlich: „Beides“. Es gab allerdings niemanden, der nur „Anderes“ geantwortet hat. Also Bücher sind offensichtlich in der ein oder anderen Variante bei allen Teil der Lesepraxis.

Frage 3. Was liest du genau? Mit dieser Anschlussfrage wollte ich es dann genau wissen. Da war die Antwort auch ganz offen, nach dem Motto: anything goes. Da sind dann echt super tolle Antworten gekommen. Ich habe ja damit gerechnet, dass hier durch meine Frageintention, die sich ja doch irgendwie in der vorherigen Frage offenbart hat, eine gewisse Vielfalt sichtbar wird. Das war ja auch durchaus so geplant. Ich möchte euch ein paar Beispiele aufzählen, damit ihr euch selbst ein Bild davon machen könnt, was Lesen für uns sein kann:

Oft kamen natürlich Dinge wie: Fach- und Sachbücher, Lehrbücher, wissenschaftliche Artikel, Zeitungen/Nachrichten und so weiter. Und dann als zweite Kategorie, wobei dann manchmal auch mit dem Nachsatz wenn noch Zeit bleibt, kamen dann so Dinge wie Belletristik, Romane, Biographien, Kurzgeschichten, Gedichte. Und dann kamen auch ganz konkrete Autor·innen, die ihr gern lest.

Aber das ist noch lang nicht alles, was ihr lest. Ich habe erfahren, dass ihr auch Songtexte lest, Kochbücher, Kinderbücher, Einkaufszettel, und zwar die von anderen, die man zufällig am Boden findet. Das hat mich ganz an meine Gruppen-Deutschkurs-Zeiten erinnert. Da bin ich sehr oft beim Billa nach der Kassa am Boden herumgerobbt und hab fremde Einkaufszettel und Kassenbons aufgesammelt, weil ich die oft mit den Teilnehmer·innen in meinen Kursen gelesen hab. Das waren immer die lustigsten Stunden. Was man da alles rauslesen kann, aus diesen Zetteln. Absehen von Dosenfisch und Ottakringer.

Alles, was so unter den Begriff digitale Kommunikation fällt, also E-Mails, Textnachrichten, Chatnachrichten usw., wurde nicht so oft genannt, um nicht zu sagen: sehr selten. Vielleicht noch Social Media, Twitter und so, aber sonst hat das kaum jemand als “lesen” gewertet bzw. bewusst als „lesen“ gewertet. Es ist also offenbar nicht das erste, was man antwortet, wenn man gefragt wird: Was liest du? Ist nachvollziehbar, absolut. Aber auch von einem theoretischen Standpunkt aus zu erwarten. Da der Lesebegriff eben doch sehr stark am Medium Buch hängt, und da zwar medial schriftliche Kommunikation, die aber konzeptuell mündlich ist — also alles von E-Mail, Chat, Kurznachricht — irgendwie einen anderen Stellenwert für uns hat. Aber dazu kommen wir noch.

Frage 4. Was bedeutet lesen für dich? Auch auf diese letzte Frage waren eure Antworten sehr vielfältig. Was für mich das Allerschönste an der ganzen Umfrage war. Die von euch genannten Dinge kann man grob in zwei Gruppen einteilen: Wissen/Information auf der einen Seite und Unterhaltung/Entspannung auf der anderen Seiten. Wobei diese beiden Gruppen absolut nicht klar voneinander getrennt werden können. Natürlich. Es handelt sich eher um zwei Pole, zwischen denen sich ganz viele Ziele, Gründe, Bedeutungen finden lassen, die nicht eindeutig einem der beiden Pole zuzuordnen sind.

Das merkt man schon an Antworten wie: eintauchen. Worin eintauchen? In die Geschichte, in die Ideenwelt, in die Materie? Oder einen anderen Blick auf etwas bekommen, das habe ich auch gehört. Das kann uns ja genauso gut bei einem Fachbuch passieren wie bei einem Gedicht oder einem Roman.

Eure häufigste Antwort war allerdings Entspannung, ganz eindeutig. Entspannung, aber auch Abschalten, Ablenkung, oder Loslassen. Das sind natürlich keine Synonyme für Entspannung, aber gehen für mich doch alle ein Stück weg von der Idee: Ich lese, weil ich mir Wissen aneignen möchte. Grundsätzlich war aber zu erkennen, dass für die meisten von euch beides wichtig ist. Also für viele von euch dient das Lesen der Informationsvermittlung und der Unterhaltung.

Eine Antwort hat dieses Spektrum, auf dem ihr euch beim Lesen bewegt, sehr eindrucksvoll zusammengefasst hat, finde ich, war Zitat: Lesen ist Denken. Und Lesen ist nicht denken. Das fand ich einfach sehr treffend. Und ich denke, das ist auch ein guter Abschluss dieser kleinen Umfragenauswertung, denn ich denke, dass die Person hier vermutlich sehr vielen von euch aus der Seele spricht.

Nun wissen wir also, was ihr zum Thema Lesen zu sagen habt. Doch was ist das eigentlich, lesen?

Lesen — eine Kulturtechnik?

Das Lesen hat im Duden drei Grundbedeutungen. Das Lesen, an das ihr jetzt wahrscheinlich alle denkt, nachdem es heute ja um den Welttag des Buches geht. Also das “Erfassen eines Texts mit den Augen und mit dem Verstand”. Im übertragenen Sinne gibt der Duden aber auch folgende Bedeutung an: “etwas aus etwas erkennend entnehmen” — also im Sinne von “Gedanken lesen”, oder “etwas im Blick eines oder einer anderen lesen”. Die dritte Bedeutung im Duden bezieht sich auf die elektronische Datenverarbeitung: “lesen” können wir ja zum Beispiel auch Daten von einem Datenspeicher oder Datenträger, einem USB-Stick, einer Festplatte und so weiter. Alles in allem hat das Lesen also offenbar immer irgendetwas mit dem Erfassen von Dingen, Informationen, Daten zu tun. Woher kommt das?

Das Wort lesen stammt vom lateinischen legere. Die ursprüngliche Bedeutung von legere (“sammeln,auswählen”) war auch noch im althochdeutschen Wort lesan enthalten und ist heute noch in Verbindung mit der Traubenernte zu erkennen, Traubenlese sagen wir da ja, oder als Synonym für Auswahl (meist Auswahl der Besten oder der Elite): die Auslese.

In einem meiner Beiträge auf Instagram ging es in den vergangenen Wochen schon einmal um das Wort Buchstabe. Wer sich noch an die Caption zum Beitrag erinnern kann, wird jetzt vielleicht an die germanischen Wahrsagestäbchen denken, in die Runen eingeritzt waren, und auf die der -stab-Teil von unserem heutigen Wort Buchstabe zurückgehen soll. Die Verbindung zwischen dem Auflesen dieser Stäbchen und unserem heutigen Lesen von Buchstaben ist aber umstritten.

Das Lesen — also das Lesen von Geschriebenem — wird heute gemeinhin als Kulturtechnik angesehen. Unter Kulturtechniken versteht man kulturelle und technische Konzepte, die dabei helfen, Probleme in unterschiedlichen Lebenssituationen zu bewältigen. Paradebeispiele für Kulturtechniken sind das Feuermachen, das Kunstschaffen, das Verwenden von Kalendern oder Landkarten in etwa.

Der Begriff Kulturtechnik wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal verwendet. Er verbindet das lateinische Wort cultura mit dem griechischen techné. Das heißt er verbindet das Betreiben von Feldbau bzw. das Bauen im weitesten Sinne mit der Handwerkskunst. Aus dieser Wortgeschichte lässt sich erklären, warum die ersten Kulturtechniken in erster Linie mit der Urbarmachung und Bewirtschaftung von unbebauten Flächen, also im Großen und Ganzen mit Bodenkultur, zu tun hatten.

Wenn es um Wissen und Kommunikation geht, zählen nach den gängigen Erklärungen vor allem auch das Lesen und das Schreiben zu den grundlegenden Kulturtechniken. Aber vor allem im Bereich der Erwachsenenbildung, und dort vor allem wenn es um die Basisbildung (Grundbildung) geht, sind die Definitionen von Lesen als grundlegende Fertigkeiten, als Kulturtechniken nicht unproblematisch.

Machen wir einen kurzen Exkurs in die Begriffsgeschichte der Basisbildung in Österreich. Für alle, die mehr zu diesem Thema wissen wollen als in die heutige Folge passt: Ich hab dazu schon einmal einen Beitrag bei mir im Blog geschrieben.

Lesen und Basisbildung

Die Basisbildung, nach heutiger Terminologie, richtet sich an jene Menschen, die früher als “funktionale Analphabet·innen” bezeichnet worden sind — und zum Teil heute auch noch werden. Um aber von dieser von den Betroffenen als diskriminierend und stigmatisierend empfundenen Bezeichnung anzukommen, ist man — in Österreich zumindest — zum Begriff Basisbildung gewechselt. In Deutschland dürfte der Begriff Grundbildung geläufiger sein. Im englischsprachigen Raum spricht man gemeinhin von literacy, von Literalität sozusagen, um die Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben zu bezeichnen.

Mit dieser Namensänderung quasi, mit der man ursprünglich von einer defizitorientierten Sichtweise auf die Individuen abkommen wollte, ist aber gleichzeitig eine starke Orientierung am damals europäischen Diskurs, also EU-Diskurs, um das sogenannte “Lebenslange Lernen” einhergegangen. Das heißt mit dem Begriff Basisbildung hat sich automatisch auch die Liste an Mindestkompetenzen für den modernen Bürger, die moderne Bürgerin verlängert.

Lesen und Schreiben allein hat ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gereicht, um in hoch entwickelten europäischen Staaten den steigenden Anforderungen von Seiten der Gesellschaft und des Arbeitsmarkts gerecht zu werden. Heute wird vermehrt darauf hingewiesen, dass zum Beispiel auch das elementare Rechnen zu diesen Grundfertigkeiten gehört. In den vergangenen Jahren wird zudem ganz stark der Umgang mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien betont. Und die Liste der Anforderungen ist damit nicht zu Ende. Ich zitiere (Quelle) einmal kurz, was alles unter die Konzepte der Grundbildung auf internationalen Ebene fallen soll:

“Sprache, Rechnen, Kommunikation und Leistungserbringung in der Gruppe, Computergrundkenntnisse, Unternehmergeist, Verständnis der technologischen Kultur sowie kognitive Grundlagen und Bereitschaft, on-the-job oder off-the-job weiterzulernen.”

Von “Lebenslangem Lernen” ist also die Rede, von Voraussetzungen für die “aktive Teilhabe an der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft”.

Verkauft wird das Ganze natürlich immer persönlicher Bonus, als individuelle Bereicherung: Wenn du lesen kannst, kannst du… Gemeint ist damit aber: Wenn du lesen kannst, bringst du uns… Diese Konzeptualisierung war also nie wirklich am Individuum, am Menschen oder an der Praxis ausgerichtet.

Wer vor ein paar Minuten noch gedacht hat: So ein Blödsinn, Verena, natürlich sind Lesen und Schreiben die Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt, wer vor ein paar Minuten noch gedacht hat: What the heck are you talking about, sieht hoffentlich spätestens jetzt, worauf ich hinaus möchte.

Die wichtigen Fragen zum Lesen und Schreiben werden in einem solchen Rahmen nämlich nicht mehr gestellt: Wer liest? Wo, wann, was, wozu, warum und mit wem? Was ist lesen? Was passiert beim Lesen? Und wie können wir sicherstellen, dass in den staatlichen Institutionen ein möglichst diverser und wertschätzender Umgang mit Literalität gepflegt wird?

Im Gegensatz dazu werden das Lesen- und Schreibenkönnen unreflektiert mit all den vorhin genannten Fähigkeiten in einen Topf geworfen — ein Topf noch dazu, der ständig durch einen größeren ersetzt werden muss, weil sich immer wieder neue Kategorien finden, über die man Menschen aus einem vordefinierten Kern von Gesellschaft ausgrenzen kann.

Lesen und Schreiben dient neben all diesen anderen Fertigkeiten nur mehr der ökonomischen Verwertbarkeit des Menschen.

Ganz eindringlich zeigt sich das an metaphorischen Verwendungen des Literacy-Begriffs: Mittlerweile spricht man von computer literacy, von statistical literacy, media literacy, visual, cultural und emotional literacy. (Krenn 16)

Aber was, wenn das alles nicht stimmt? Was, wenn Lesen und Schreiben keine Kulturtechniken sind. Wenn Literalität nicht stellvertretend für Intelligenz oder Bildung stehen kann? Was wenn es das eine “richtige” Lesen und Schreiben eigentlich gar nicht gibt?

New Literacy Studies

Genau in diese Kerbe schlagen Vertreter·innen der sogenannten New literacy studies. Die Forschung zu den “Neuen Literalitäten” ist vor allem im englischsprachigen Raum sehr produktiv. New literacy-Forscher·innen gehen davon aus, dass unsere herkömmliche Vorstellung von Literalität, also vom Lesen- und Schreibenkönnen, zu eng ist. Sie kritisieren, dass Lesen und Schreiben einfach mit universellen Kulturtechniken gleichgesetzt werden.

Sie kritisieren vor allem auch, dass durch den zentralen Begriff literacy, also Literalität im Singular, das komplexe Feld von Lesen und schreiben viel zu simpel dargestellt wird.

Zum einen wird mit dem Begriff “Literaltität”, oder eben literacy im Englischen, meist das Gegenteil zur sogenannten Illiteralität markiert, also zur Unfähigkeit zu Lesen und zu Schreiben. Mit der Ausdehnung des Konzepts Literalität auf andere Fähigkeiten zusätzlich zum Lesen und zum Schreiben wird diese Dichotomie, diese Zweiteilung, noch folgenschwerer.

Wir haben gerade gehört: Heute werden auch das Rechnen, Computergrundkenntnisse, Sprache ganz allgemein, kognitive Grundlagen und andere sehr umfassende und schwammige Fähigkeiten zu den Grundfertigkeiten gezählt. Entweder man kann all das oder man gilt als illiterat?

Damit wird Literalität immer mehr mit allgemeiner Bildung und/oder Intelligenz gleichgesetzt. Gleichzeitig aber auch immer weiter in die Verantwortung der Einzelnen gelegt. Wir erinnern uns: Wir alle bräuchten eine Bereitschaft weiterzulernen, auch off-the-job.

Lesen und Schreiben allein würde die Bürger·innen nicht mehr dazu befähigen, in einer immer komplexer werdenden Welt zu funktionieren. Aber gerade auch in diesem Wort “funktionieren” schwingt ein starker politisch-ökonomischer Unterton mit. “Funktionieren” nach welchen Regeln, nach welchen Maßstäben?

Für die New literacy studies ist die Antwort auf diese Frage einfach: die, der machtstärksten Gruppen in einer Gesellschaft. Und damit sind wir wieder beim zentralen Thema von Schon gewusst: der Beziehung zwischen Sprache und Macht.

Die New literacy studies gehen davon aus, dass es sich beim Lesen und Schreiben um soziale Praxis handelt. Sie gehen davon aus, dass es in einer Gesellschaft mehr als nur eine Literalität gibt. Der konkrete Gebrauch von Schriftsprache ist von der Zeit und dem Ort, an dem geschrieben oder gelesen wird, abhängig. Jede soziale Interaktion verlangt eine charakteristische Art, geschriebene Sprache zu verwenden.

Was natürlich nicht bedeutet, dass wir nicht in der Lage wären, zwischen unterschiedlichen Formen von Schriftsprachgebrauch zu wechseln. Wenn ich zum Beispiel Textnachrichten verschicke, ist meine Schriftsprache weit weniger „elaboriert“, als wenn ich eine andere Form der schriftlichen Kommunikation wähle. In einer SMS kommen selten Beistriche vor, die Groß-Kleinschreibung ist nebensächlich, Wörter werden abgekürzt, werden durch Emojis ersetzt. Wenn ich mit meinem Papa per SMS kommuniziere, kommen oft sogar nur Emojis vor! Manchmal bestehen seine Nachrichten nur aus: Telefonhörer, Fragezeichen? Und wenn er ganz faul ist, bekomme ich überhaupt nur ein Kaffeeheferl. Ohne Fragezeichen.

Und trotzdem schaffe ich es, für die Transkripts, die ich nach jeder Podcastfolge hier in dieser Form auf die Webseite hochlade, mehr oder weniger vollständige Sätze zu produzieren. Wenn es aber nicht um einen Blog, sondern um eine wissenschaftliche Konferenz gehen würde, würde ich für mein Abstract, das ich einreiche, vermutlich einen Text verfassen, der noch einmal einen ganz anderen Ton hat, ein anderes Format. Einen Text, der sich noch strikter an den Rechtschreib- und Strukturnormen der deutschen Sprache orientiert.

Wenn man noch weiter geht, und zusätzlich zu Ort und Zeit des Schriftsprachgebrauchs auch soziolinguistische Faktoren wie soziale Gruppe, soziales Milieu und so weiter mit einbezieht, diversifiziert sich diese Vorstellung von literacy als plurales Konzept noch weiter.

Das Besondere an diesem Ansatz ist aber nicht nur, dass er die Pluralität von Schriftgebrauch in einer Gesellschaft betont. Dadurch, dass das Lesen und Schreiben als gesellschaftliches Handeln konzipiert werden und nicht mehr (nur) als Kompetenz eines Individuums, wird auch der Blick auf Machtbeziehungen frei.

Nach welchen Maßstäben — um noch einmal auf die Frage von vorhin zu kommen — hat ein Mensch in einer Gesellschaft zu funktionieren? Nach welchen Maßstäben wird gemessen, wer gut genug oder nicht gut genug lesen kann, um am öffentlichen Leben oder an der Wirtschaft eines Landes teilzuhaben?

Aus der Perspektive der New literacy studies gibt es in jeder Gesellschaft eine sogenannte “dominante” Literalität. Eine Form des Lesens und Schreibens, die der sozialen Praxis der machtstärksten Gruppen entspricht.

Du hast noch nie ein Buch von Goethe gelesen? Minus. Du liest überhaupt nie Romane? Minus. Du liest vom Tabletstatt vom Papier? Minus. Du hast zu Hause weder Bücherwand noch Leseecke? Doppel-Minus.

Wir könnten diese Liste wahrscheinlich endlos weiterspinnen und hätten am Ende vermutlich trotzdem alle ein sehr ähnliches Bild vom „idealen Leser“, oder Gott behüte, von der idealen Leserin konstruiert. Frauen lesen ja grundsätzlich falsch. Aber das ist eine andere Geschichte.

Was ich damit sagen möchte:

Das Lesen ist — spätestens mit dem Beginn der Moderne — zu einer sozialen Norm geworden. Geprägt vom kulturellen Leitmedium des Bürgertums im 19. Jahrhundert par excellence, das über das Wirken machtvoller sozialer Institutionen wie der Schule bis heute als Gradmesser für Bildungserfolg dient: dem Buch.

Ausblick

Und damit sind wir wieder dort, wo wir heute angefangen haben. Wie schaffen wir es heute, diesen sehr konservativen Blick auf das Statussymbol Buch und die von bürgerlicher Praxis geprägte Form des Lesens loszulösen von der Idee des Lesens und Schreibens im 21. Jahrhundert? Wie schaffen wir es, unseren Fokus stattdessen auf die Vielfalt gesellschaftlicher Lese- und Schreibpraxis zu lenken? Und unsere Kinder von Anfang an in eine Welt hinein zu sozialisieren, in der das Lesen — und das Schreiben — in all seiner Komplexität und Vielfalt wertgeschätzt wird?

Natürlich werden wir in einer kleinen, unbedeutenden Podcastfolge keine großen und wirklich bedeutsamen Antworten auf diese Fragen finden. Aber allein die Frage an sich ist schon eine 180-Grad-Wende, wenn man bedenkt, dass wir heute bei einer sehr kompetenzorientierten, defizitorientierten Vorstellung von Lesen angefangen haben.

Ich möchte euch also im zweiten Teil dieses Beitrags in unseren privaten Lesealltag bei uns zu Hause mitnehmen, und euch an ein paar Beispielen zeigen, was Lesen für uns — nicht nur im Lesemonat April — bedeutet. Aber dafür müsst ihr euch noch ein paar Tage gedulden.

Weiterdenken

Weiterhören

Ich habe vor kurzem ein Interview mit Carla Heher vom Kinderbuchblog buuu.ch zum Thema “Erstlesebücher” gemacht. Die Folge könnt ihr jederzeit bei ihr im Diverse Kinderbücher Podcast nachhören. Hier geht’s direkt zur Folge auf Spotify.

Weiterlesen

Auch hier im Blog wird es ab April eine neue Beitragsserie zum Thema “Schriftspracherwerb” geben. Worum es in dieser Serie gehen wird?

  • Entwicklungsstufen im Schriftspracherwerb
  • Tipps und Tricks für die Lesebegleitung zu Hause
  • vorbereitende Aktivitäten auf das Selberlesen
  • Erstlesebücher — und solche, die es noch werden wollen

Über neue Beiträge in dieser Serie halte ich euch wie gewohnt auf Twitter, Instagram und im Podcast auf dem Laufenden.