Wir sind im April und wie auch schon das letzte Mal geht es auch heute wieder nur um eines: das Lesen. Nach dem durchaus kritischen Blick auf das Lesen als unabdingliche Kulturtechnik für das Funktionieren in einer Gesellschaft, die sich als  hochentwickelt und wissensbasiert versteht, widmen wir uns heute dem Lesen als soziale Praxis. Wie versprochen möchte ich euch heute mitnehmen zu uns nach Hause und euch an ein paar Beispielen mit unseren Kindern, Nono und Mimi, zeigen, wie Lesen bei uns in der Familie funktioniert.

Wer bin ich?

Aber bevor wir loslegen: Vielleicht noch einmal kurz zur Einführung, für alle die mich und den Blog noch nicht so gut kennen. Wer einen etwas tieferen Einblick in meinen Werdegang möchte, kann gern nochmal hier nachlesen. Dort habe ich meine berufliche und meine Sprachenbiographie ein bisschen detaillierter dargestellt. Ein paar Dinge möchte ich heute trotzdem noch einmal wiederholen, weil ich denke, dass sie hilfreich sein könnten, um unsere Lesepraxis in der Familie einordnen zu können.

Ich bin studierte Sprachwissenschaftlerin, und ewige Soziolinguistin im Herzen. Ich habe außerdem eine Ausbildung als Basisbildnerin gemacht und ein Diplomstudium in Romanistik, und zwar in Französisch. Ich arbeite aktuell allerdings nicht im akademischen Bereich, sondern als Sprachtrainerin, vor allem im Bereich DaF/DaZ, und zwar bei mir im Lehrwerk.

Zur Zeit wohne mit meiner Familie in Wien. Unsere beiden Kinder sind 2017 und 2020 auf die Welt gekommen. Der Nono, der ältere, ist jetzt viereinhalb, und die Mimi ist eineinhalb. Und beide sind — zu meinem Glück — große Buchwürmchen.

Lesen mit Kindern

Nach der langen Einführung in das Thema Schreiben, Lesen, Literacy im letzten Beitrag muss ich wahrscheinlich nicht lange erklären, dass das Lesen bei uns ein sehr offenes Konzept ist. Das Lesen beschränkt sich bei uns weder auf das Lesen an sich bzw. auf das Vorlesen, noch auf Bücher. Natürlich bildet das Vorlesen auch bei unseren Kindern einen ganz wesentlichen Baustein in ihrer Lesesozialisation. Wir lesen jeden Tag, meistens sogar mehrmals, ohne Ausnahme, vor allem mit der Mimi, weil sie eben noch so eine kurze Aufmerksamkeitsspanne hat in ihrem Alter.

Das Vorlesen an sich ist aber bei uns ein sehr weit gefasstes Konzept. Beim Vorlesen geht es uns nicht nur darum, Geschichten aus einem Buch vorzulesen. So wie: Buch auf, Geschichte raus, Buch zu. Vorlesen ist bei uns einfach Arbeit an und mit dem Buch. Und wenn ich die Sache jetzt verwissenschaftlichen wollen würde, müsste ich sagen: Arbeit an und mit Schriftsprache. Aber das Ziel ist es ja heute, sehr konkret zu bleiben, nah an der Praxis. Damit für euch im besten Fall auch was dabei ist, was ihr mit in eure Familien nehmen und ausprobieren könnt.

Das heißt aber weder, dass das, was wir zu Hause machen, das Nonplusultra der Lesepraxis ist, noch dass es die einzige Art ist, zu Hause zu lesen. Ganz abgesehen davon, dass ich heute nur einen Bruchteil von dem vorstellen kann, was und wie bei uns daheim im weitesten Sinne gelesen wird.

Wie dem auch sei: Wir nehmen heute trotzdem einfach einmal das Buch als Ausgangspunkt für die unterschiedlichen Aktivitäten, die ich euch vorstellen möchte. Auch weil der Weltbuchtag eben den Anstoß für diese Folge geliefert hat. Wenn wir zu Hause ein Buch lesen, tun wir das auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Nicht immer alle gleichzeitig, aber wir haben einfach mehrere Zugänge, die für uns ganz gut passen, und zwischen denen wir je nach Buch, Tagesverfassung etc. auswählen.

Einen dieser Zugänge möchte ich euch heute vorstellen: das sogenannte Dialogische Lesen. Beim dialogischen Lesen handelt es sich um eine durchaus bekannte und nachgewiesenermaßen effektive Methode, wenn es um Lesegewohnheiten und um Spracherwerb allgemein geht.

Ich werde zwei Bücher bzw. Buchreihen herausgreifen — eines für Mimis Alter und eines für Nonos — und die Methode zuerst einmal für jüngere Kinder vorstellen und dann versuchen, die Möglichkeiten der Methode ein bisschen ausdehnen, um zu zeigen, dass sie sich durchaus auch für kleine Leseanfänger·innen eignet. Die Mimi ist eventuell noch ein bisschen zu jung für das dialogische Lesen im klassischen Sinne, aber es gibt durchaus Bücher, mit denen es auch bei ihr schon ganz gut funktioniert.

Schauen wir uns zuerst einmal an, was das dialogische Lesen eigentlich ist.

Was ist Dialogisches Lesen?

Es handelt sich beim Dialogischen Lesen um eine Mischung aus Vorlesen und Erzählen, wobei das Buch an sich “nur” als Gesprächsanlass dient. Das Ziel ist es, das Kind dazu zu bringen, über das Buch zu reden. Als Gesprächspartner·innen sind wir dabei nicht nur diejenigen, die die Geschichte vorlesen, sondern auch diejenigen, die in Anlehnung an die Geschichte oder die Illustrationen Fragen stellen, Impulse geben, das aufgreifen, was die Kinder von selbst einwerfen.

Im Vordergrund steht dabei natürlich erst einmal die allgemeine Sprachkompetenz der Kinder. Also es geht weniger um das Lesen an sich, sondern mehr um die Sprachentwicklung. Durch das dialogische Lesen können Wortschatz, Ausdrucksweise oder Satzstrukturen erarbeitet werden, und zwar im Dialog, quasi nebenbei. Wir werden aber später bei Nono sehen, dass sich das Dialogische Lesen auch zu ganz anderen Zwecken einsetzen lässt.

Aber bleiben wir erst mal bei den jüngeren Kindern.

Dialogisches Lesen mit Kleinkindern

Die Mimi kommt ja jetzt gerade erst ins Vorlesealter, sag ich jetzt einmal. Am einfachsten mache ich mir das Vorlesen natürlich, wenn ich, in den Büchern, die sie mir bringt, anstatt einfach “nur” über die Bilder zu sprechen, anfange, die Sätze auf den einzelnen Seiten vorzulesen. Klingt banal. Ist es zum Teil auch. Aber auf der anderen Seite wieder nicht. Weil sie oft — wie viele Kinder in diesem Alter — nach zwei, drei Seiten schon wieder genug hat, und entweder weiter blättert oder sich ein neues Buch holt. Was dann bei uns sehr oft hilft, ist, sehr theatralisch zu sprechen. Stimmen nachzumachen, Wörter besonders stark zu betonen. Mimik und Gestik zu verwenden, um die Aussage zu unterstreichen.

Wenn wir aber noch einen Schritt weitergehen wollen, und aus der Geschichte heraus und aus dem Material im Buch einen Dialog entstehen lassen wollen, braucht es eben nicht nur gemeinsame Aufmerksamkeit, sondern auch Kooperation, gemeinsames Handeln, Austausch.

Ganz besonders gut geht das, finde ich, bei Büchern, die von sich aus schon interaktiv sind. Vor allem bei so kleinen Kinder noch. Ältere brauchen das vermutlich nicht mehr so stark. Also Bücher mit Schiebeelementen oder Klappen zum Beispiel, die aber nicht alle Aufmerksamkeit auf diese manipulierbaren Elemente lenken. Die gibts nämlich auch, diese Bücher; und die wären dann natürlich wieder kontraproduktiv.

Ein Buch, bei dem die Mimi aber immer gern mitmacht und zuhört, ist das Buch “Gute Nacht, kleiner Löwe” von Tanja Jacobs aus dem Oetinger Verlag. Das ist genau so ein Buch mit Schiebeelementen. Hier funktioniert das folgendermaßen: Es wird auf jeder Doppelseite ein Tier vorgestellt, dass schlafen geht. Zuerst ein Löwe, dann ein Vogel und dann ein Fisch. Und durch das Umblättern werden im Tiergesicht die Lammellen so verschoben, dass sich die Augen der Tiere schließen. Wie beim Einschlafen eben. Nur beim letzten Tier, beim Elefanten, ist das Ganze umgekehrt. Der schläft schon die ganze Zeit und durch das Umblättern wecken wir ihn wieder auf. Und schließlich fängt er auch noch an zu tröten und weckt damit auch die anderen Tiere wieder auf.

Immer wieder ein ganz großes Spektakel für die Mimi. (Kinder sind einfach die besten Geschöpfe.) Wenn dann alle Tiere wieder munter sind, fangen wir natürlich wieder ganz von vorne an. Und wieder und wieder und wieder.

Wenn man so ein Buch erst mal gefunden hat, eines, das das Kind wirklich fesselt und das man wirklich auch vorlesen darf, dann geht das mit dem dialogischen Lesen, so wie ich es gerade eben beschrieben hab, auch schon mit Kindern, die gerade erst ihre ersten Wörter sprechen.

Gerade in diesem Alter wird natürlich erst einmal der Wortschatzausbau im Vordergrund stehen. Aber schon auch erste Script-Erfahrungen, also Erfahrungen damit, wie Geschichten funktionieren. Wie sie aufgebaut sind — ein langsamer Spannungsbogen mit einer unerwarteten Wende und einem ordentlichen Höhepunkt, der sich am Ende in große Freude auflöst, weil: Welches Kind hat es nicht gern, wenn alle Tiere wieder wach sind?

Aktivitäten beim dialogischen Lesen mit Kleinkindern

Vorlesen natürlich, es ist ohnehin sehr wenig Text im Buch, was gut ist. Erstens von der Textmenge an sich, mehr braucht es für dieses Alter gar nicht zu sein. Und zweitens, weil es uns ja ohnehin nicht um das Vorlesen an sich geht, sondern um das dialogische Lesen.

Die dialogischen Anteile initiieren sowohl ich als auch die Mimi selbst. Ich bin meistens diejenige, die Fragen stellt. Zum Beispiel: Wem sagst du jetzt Gute Nacht? oder Wer ist müde? Wie macht der Elefant? ab und zu mal Wo ist die Raupe? Solche Dinge eben. Um sie zum Sprechen zu bringen.

Sie selber unterbricht das Lesen meist dadurch, dass sie auf Dinge in den Zeichnungen zeigt. Und mir dann entweder einfach aufzählt, was sie alles sieht. Blume, Blätter, Federn, Auge. Was aber meistens dazu führt, dass wir bei den ein oder anderen Ding, das sie mir zeigt, kurz stehenbleiben und dann noch kurz darüber sprechen.

Zum Beispiel bei den Augen, weil die eben so zentral sind in dem Buch: Sie ist gerade in der Phase, wo sie versucht, Gegenstände in der Welt zu kategorisieren und sie sprachlich zu ordnen. Das Auge zum Beispiel. Wenn wir das im Buch sehen, ist es ihr ganz wichtig, sich zu vergewissern, dass das auch das gleiche Auge ist, dass auch sie hat, oder ich, oder ihr Bruder. Also nicht dasselbe, aber die gleiche Kategorie Körperteil quasi.

Und dann fängt sie an: Mama Auge! Ja, ich hab auch ein Auge. Nono Auge! Ja, du hast auch ein Auge. Papa Auge! Ja, der Papa hat auch ein Auge. Und so geht das weiter, bis sie alle Leute durch hat, die ihr in dem Moment gerade einfallen.

Das ist erstens ein ganz wichtiger Schritt in der Sprachentwicklung allgemein und es ist zweitens eine wunderbare Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb. Und dabei sind wir gar nicht bei der Schrift, bei den Buchstaben, wir sind nicht einmal in der Geschichte eigentlich. Wir sind bei den Augen der Tieren. Aber diese Erkenntnis, ah da gibt es ein Wort Auge, das für den Körperteil Auge steht, für ein Ding in der Welt. Diese Abbildbarkeit von Welt durch Sprache, durch ein vollkommen arbiträres Zeichensystem, in dem ich aber eine gewisse Systematik erkennen kann. Zum Beispiel dass alle Augen eben Augen sind, obwohl es nicht dieselben Augen sind, das Wort Auge bleibt immer gleich. Das ist eine irrsinnige Leistung für sprechen lernende Kinder.

Und das gleiche Prinzip wird ihnen wieder begegnen, wenn sie sich später anfangen aktiv mit der Schriftsprache auseinanderzusetzen. Denn: Schriftsprache ist nichts anderes als ein weiteres Zeichensystem. Zwar stehen die Zeichen hier nicht für ganze Dinge — zumindest nicht in Alphabetschriften wie der lateinischen Schrift — aber sie stehen mehr oder weniger gut für einzelne Laute. Und dass sich Kinder gerade diese Funktion von Sprache erschließen, wird eben gerade in diesen kleinen Äußerungen sichtbar bzw. hörbar.

Und gerade da sehe ich ein großes Potential im dialogischen Lesen auch mit noch sehr jungen Kindern. Weil uns diese gemeinsame Lesezeit die Möglichkeit gibt, diese Entwicklung zu bemerken, zu erkennen, was das Kind gerade tut, darauf einzugehen. Die Beobachtungen aufzugreifen, weiterzuspinnen: Alle Menschen haben Augen. Alle Tiere haben Augen. Alle Tiere im Buch machen die Augen zu. Machst du auch die Augen zu, wenn du schlafen gehst? Und dann haben wir wieder einen neuen Gesprächsanlass.

Nach mehreren Gute-Nacht-Runden im Buch sind unsere Dialoge meist nicht mehr so ausgedehnt, weil Mimi irgendwann die Geduld verliert, nicht mehr still sitzen kann, oder nach und nach immer mehr Seiten überspringt, weil sie unbedingt schnell zum Elefanten kommen will. Aber das ist scho okay. Dialogisch gelesen haben wir ja trotzdem.

Dialogisches Lesen mit Leseanfänger·innen

Der Nono ist ja doch schon drei Jahre älter, der hat schon seine festen Vorleserituale etabliert. Aber auch Nono verändert eben gerade seinen Zugang zu Büchern und vor allem zur Schriftsprache.

Er hat vor ein paar Monaten einen großen Entwicklungsschub gehabt, wo er gefühlt — das ist natürlich nicht sehr wissenschaftlich ausgedrückt — aber mir ist es so vorgekommen, als hätte er an ein und demselben Tag angefangen, gleichzeitig zu zeichnen, also nicht nur zu malen, sondern im Detail Szenen und Situationen aufzuzeichnen, sich Wörter zu erschreiben und Wörter zu erlesen, also nicht mehr nur Sichtwörter wiederzuerkennen (Ah, da steht mein Name, weil so schaut das Wort geschrieben aus.), sondern wirklich Buchstabe für Buchstabe zusammenzulauten, auch bei Wörtern, die er nicht als Sichtwörter wiedererkannt hat.

Und nein, das bedeutet nicht, dass Nono jetzt mit mir zu Hause lesen und schreiben übt. Die Frage bekomme ich tatsächlich oft. Wie ich das denn machen werde, wenn die Kinder größer sind. Ihnen alles selber beibringen? Mit ihnen lesen und schreiben lernen. Wo ich es doch so mit Sprache hab.

Natürlich nicht. Nur weil ich “Sprache studiert“ hab und mich beruflich mit Sprache und Sprachen beschäftige, heißt das nicht, das ich meinen Kinder damit auf die Nerven gehen muss. Was ich aber machen kann, ist, sie beim Lesenlernen begleiten.

Das ist auch etwas ganz Wichtiges, auf das ich heute hinweisen will: Das Lesenlernen, genauso wie das Schreibenlernen, ist nur ein Teil von einem viel umfangreicheren Entwicklungsprozess. Neben dem gezielten Lernen, das ja meist auch nur in institutionellen Settings wie der Schule passiert, bei dem die Lerner·innen theoretisch wissen, was sie lernen. Aha, jetzt lernen wir den Buchstaben B, jetzt lernen wir wie wir ihn schreiben, jetzt lernen wir, wie er ausgesprochen wird und so weiter. Neben diesem gezielten Lernen, diesem angeleiteten Lernen, gibt es auch einen Erwerbsprozess, der sehr viel ungeleiteter ist. Und auch dieser Teil der Entwicklung ist wahnsinnig wichtig. Kinder brauchen Zeit und die Möglichkeiten, Schrift und Schriftsprache quasi selbst zu erforschen und zu entdecken. Das heißt aber nicht, dass wir sie in diesem Prozess nicht unterstützen können. Wir können ihnen erstens die Möglichkeiten geben, diese Erforschungen zu machen. Klar. Und wir können einzelne Strecken dieses Weges mit ihnen gehen. Sie also wortwörtlich begleiten.

Ich will heute gar nicht so viel zu den einzelnen Dingen sagen, die ich bei der Lesebegleitung mache. Allerdings möchte ich auf eine Methode hinweisen, die auch beim Selberlesen noch eine wichtige Funktion hat: nämlich, wie gesagt, das Dialogische Lesen. Das dialogische Lesen ist ja eigentlich keine Methode, die speziell auf das Lesenlernen ausgerichtet ist. Im Gegenteil, das dialogische Lesen — das haben wir ja vorhin bei der Mimi gesehen — sollte eigentlich schon möglichst früh Bestandteil der familiären Lesepraxis sein.

Beim Nono gehört das dialogische Lesen also schon lange dazu. Deswegen wenden wir es auch an, wenn wir zwischendurch Bücher gemeinsam lesen. Das heißt wir haben bestimmte Bücher, die sich dazu eignen, dass auch er zwischendurch immer wieder einmal ein paar Wörter oder Sätze selbst liest.

Wir machen das nicht nur mit sogenannten Erstlesebüchern — die Bezeichnung „Erstlesebuch“ finde ich nicht immer treffend, wenn man bedenkt, was dann ich diesen Büchern zum Erstlesen angeboten wird, aber das ist ein Thema, das ich hier ein bisschen genauer ausführen werde.

Es gibt allerdings schon ein paar Bücher, die nicht nur für Erstleser·innen gedacht sind, sondern auch wirklich von Ersteleser·innen gelesen werden können. Es gibt zum Beispiel vom Fischer-Duden Verlag in der Reihe „Leseprofi“ Geschichten für den Leseanfang. In „Das große Buch zum gemeinsamen Lesen“ von Luise Holthausen zum Beispiel werden kürzere Geschichten nach dem Prinzip Erst ich ein Stück, dann du ein Stück angeboten. Dabei sind die Textteile für die Kleinen aber immer nur ein oder maximal ein paar wenige Wörter lang. Und sie sind schön groß und bunt, das heißt, sie heben sich gut vom restlichen Text ab.

Aktivitäten beim Dialogischen Lesen mit Leseanfänger·innen

Wir lesen da dann einfach die Geschichte, wie sie gelesen gehört, laut Verlag. Also zuerst ich mein Stück, dann er sein Stück. Aber wir lesen nie die Geschichte in einem Stück. Wie beim klassischen dialogischen Lesen machen wir immer wieder Pausen dazuwischen, schauen uns die Bilder an, machen die Rätselfragen, denken uns eigene Fragen aus. All diese Dinge helfen ihm unheimlich, mit dem neuen Format Erstlesebuch quasi zurechtzukommen. Durch unsere Gespräche über das Buch kann ich ihm Lesestrategien anbieten.

Das klingt jetzt irrsinnig trocken und oberlehrerisch, aber in Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall. Dadurch, dass das Ganze eine dialogische Situation ist, in der wir uns quasi beide gemeinsam durch den Text arbeiten, entsteht eine Art Gleichgewicht. Ein gemeinsames Lesen also, bei dem manchmal er was Interessantes beizusteuern hat, und manchmal eben ich.

Ich kann ihm zum Beispiel zeigen, wie wichtig die Bilder sind, um den geschriebenen Text zu verstehen. Ich kann gemeinsam mit ihm vorausdenken, überlegen, wie es weitergehen könnte, damit er schon mit einer bestimmten Erwartungshaltung an den nächsten Abschnitt herangeht. Ich kann aber auch auf die Sprache fokussieren. Auf die typischen Holpersteine beim Selberlesen. Schwierige Buchstabenkombinationen, das , das , das lange . Besondere Merkmale, die Umlaute zum Beispiel, oder dass man die Buchstaben am Ende von Silben wie /a/ ausspricht.

Alles Dinge, die er später brauchen wird, wenn er ganz alleine lesen möchte. Und alles Dinge, die ganz nebenbei passieren, während wir quasi in der Geschichte sind. Wenn er sich wirklich einmal sehr schwer tut bei einem Wort, kann ich ganz leise mitlesen, eventuell auch mit dem Finger mitzeigen. Dann hab ich ihm zwar geholfen, ja, aber wir haben trotzdem immer noch gemeinsam gelesen.

Ganz wichtig bei dieser Dialogischen Lesebegleitung: Er darf entscheiden, wann er nicht mehr lesen möchte. Manchmal schafft er auf diese Art mehrere Geschichten am Stück. Manchmal ist einer nach einer halben Geschichte schon so müde, dass er nicht mehr will. Und beides ist okay. Ich lese die Geschichte, in der wir gerade sind, noch zu Ende, damit das Leseerlebnis nicht abrupt aufhört. Aber das ist alles.

Und das war dann eigentlich auch schon wieder alles für diese Woche.

Zusammenfassung

Was können wir also von heute mitnehmen: Lesen ist keine Kulturtechnik im Singular. Unter Lesen ist ein Vielzahl sozialer Praktiken zu verstehen, die sich zum Teil mehr, zum Teil weniger von einer gesellschaftlich dominanten Form von Lesen unterscheidet. Ein Blick in die Erwachsenenbildung hat gezeigt, dass wir dazu neigen, lesen zu überhöhen. Ihm Funktionen zuzuschreiben, die weniger mit Persönlichkeitsbildung und Empowerment zu tun haben und viel mehr mit ökonomischer Verwertbarkeit der Bürger·innen. Dabei vergessen wir oft, dass es eigentlich gar kein “richtiges” Lesen gibt. Fünf Romane pro Monat zu lesen ist nicht richtiger oder falscher als andere Lesepraktiken.

Finde ich es trotzdem wichtig, meinen Kindern lesen und schreiben beizubringen? Sie bei der Entdeckung von Schrift zu unterstützen, wenn sie es wollen? Natürlich. Doch die Beispiele zum Dialogischen Lesen haben hoffentlich gezeigt, dass lesen nicht unbedingt nur etwas mit Büchern zu tun hat. Das Lesen eine in erster Linie soziale Praxis ist, zu der sehr viel mehr gehört und aus der auch so viel mehr herauszuholen ist, als nur Buchstaben und Wörter.

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  • Zum Interview über „Erstlesebücher“ für die Diversen Kinderbücher geht es hier.
  • Den ersten Beitrag in der Reihe zum Thema „Schriftspracherwerb“ findet ihr hier.