Jedes Kind kommt mit einem in irgendeiner Form mehrsprachigen Repertoire in die Schule. Doch weiß die Schule das auch?
Ganz ehrlich? Eher nein. Deswegen starten wir heute in eine neue Serie. Das große Thema: “Mehrsprachigkeit in der(einsprachigen) Schule”. Wir werden über sprachliche Bildung, sprachliche Diskriminierung, “double standards”, missglückte Sprachförderung und neue Wege im mehrsprachigen und translingualen Unterricht sprechen.
Aber alles der Reihe nach. Im ersten Teil der Serie nehmen wir die österreichische Bildungslandschaft unter die Lupe.
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Mehrsprachigkeit — Was ist das?

Die Frage, die uns heute in diese Serie führen wird ist folgende: Wie viel Mehrsprachigkeit passt in eine Schule?

Diese Frage kann man auf zwei Arten verstehen. Zum einen: Wie viele Sprachen passen in eine Schule? Also da denken wir wahrscheinlich sofort an Fremdsprachen, eventuell an sogenannte Herkunftssprachen, also Sprachen, die die Kinder aus der Familie mit in die Schule bringen und die nicht Deutsch sind. Das heißt wir denken dann automatisch — hoffentlich — auch an Deutsch, als Unterrichtssprache, als Bildungssprache. Und wer sich ein bisschen mit der österreichischen Bildungslandschaft auskennt, denkt vielleicht auch an autochthone Minderheitensprachen, und weiß unter Umständen sogar auch, warum das zwei unterschiedliche Dinge sind: Herkunftssprachen und Minderheitensprachen. Aber dazu kommen wir noch.

Zum anderen kann man die Frage aber auch so verstehen: Wie viel Mehrsprachigkeit darf in einer Schule tatsächlich gelebt werden? Alle, die bereits die Folge zur Mehrsprachigkeit und die Folge zu den Sprachideologien kennen, erinnern sich vermutlich noch an die Definition von Sprache und von Mehrsprachigkeit, die ich dort vertreten habe.

Mehrsprachigkeit ist, aus einer soziolinguistischen Perspektive, nicht die Addition von Einzelsprachen in einem Kopf, in einer Institution, in einer Gesellschaft. Sprachen, so wie wir sie auch heute in der Schule betrachten werden, sind keine in sich geschlossenen, klar voneinander abgrenzbaren Gebilde, die man erlernen kann, bis man fertig damit ist.

Sprache ist soziale Praxis und vollzieht sich in der menschlichen, sprachlichen Interaktion.

Spricht ein Mensch mehrere Sprachen, ist er oder sie in der Lage, jene sprachlichen Elemente auszuwählen, die ihm oder ihr in einer Gesprächssituation angemessen erscheinen. Sprachen werden also nicht separat in unseren Gehirnen gespeichert. Die sprachlichen Elemente unterschiedlicher Einzelsprachen bilden ein je individuelles sprachliches Repertoire, das uns die Werkzeuge zur Kommunikation mit anderen bereitstellt.

Aus dieser Sicht sind wir alle mehrsprachig. Auch wenn wir nur eine einzige Sprache sprechen, können wir alle mit unterschiedlichen sprachlichen Codes umgehen. Viele von uns werden Dialekte sprechen, eine regionale Umgangssprache, zusätzlich zur Hochsprache, zur Standardsprache. Unser sprachliches Repertoire umfasst auch Fachsprachen. Ein Physiotherapeut wird vermutlich einen anderen Wortschatz als eine Juristin besitzen oder eine Maurerin. Wir unterhalten uns mit Menschen, die wir gut kennen, anders als mit Menschen, denen wir vorher noch nie begegnet sind.

Und das bringt mich auch auf die letzten beiden wichtigen Punkte zum Thema Mehrsprachigkeit und Schule. Punkt Nummer eins:

Wir können davon ausgehen, dass jedes Kind mit einem in irgendeiner Form mehrsprachigen Repertoire in die Schule kommt.

Für manche wird die Unterrichtssprache Deutsch Erstsprache sein, für andere Zweitsprache. Aber für alle ist die Bildungssprache und somit ein für alle komplett neuer sprachlicher Code.

Und Punkt Nummer zwei:

Sprachenlernen ist ein lebenslanger Prozess.

Kinder mit deutscher Erstsprache kommen nicht mit perfekten Sprachkenntnissen in die erste Klasse. Meine Sprachkenntnisse sind nicht perfekt. Und mein erster Schultag liegt schon lange zurück. Aber genau das ist der springende Punkt. Sprachen können nicht „erlernt“ werden. Quasi bis zu einem Punkt, wo es nichts mehr gäbe, was man lernen könnte.

Und: Sprachenlernen, egal ob in der Schule oder sonst wo, geht über den Erwerb sprachlicher Kompetenzen in einer Einzelsprache hinaus. Wenn Kinder in der Schule mit weiteren Sprachen konfrontiert werden, legen sie die Kompetenzen, die sie in anderen Sprachen bereits gesammelt haben, nicht einfach ab. Sprachenlernen ist ein ganzheitlicher Prozess, in den das gesamte sprachliche Repertoire involviert ist. Egal ob es sich um Fremdsprachen handelt, um Herkunftssprachen oder um Deutsch, sowohl als Erst- als auch als Zweitsprache.

So gesehen muss sprachliche Bildung also für alle da sein. Sie muss alle Kinder im Blick haben, ihr kommunikative Praxis und ihre jeweiligen sprachlichen Repertoires. Sprachliche Bildung muss — anders als der Name denken lässt — nicht an Sprache ansetzen, an Deutsch, an Englisch, an Französisch oder Türkisch, sondern an den Kindern, die sich sprachlich in mehrsprachigen Situationen bewegen.

So viel zur Theorie. Was macht Österreich nun in der Praxis? Wie geht man an Österreichs Schulen mit Mehrsprachigkeit um?

Diese Frage werden wir heute aus einer bildungspolitischen Perspektive beantworten. Nächstes Mal nähern wir uns ihr aus einer diskriminierungskritischen Perspektive. Und beim letzten Mal dann aus einer pädagogisch-didaktischen.

Eine kleine Randnotiz bevor wir loslegen: Mehrsprachigkeit kann natürlich nicht in drei Blogbeiträgen abgehandelt werden. Auch nicht, wenn es sich “nur” um Mehrsprachigkeit in der Schule handelt. Ich werde in dieser Serie hauptsächlich von Österreich sprechen, wobei sich die Beobachtungen hier vermutlich auch in andere europäische, vor allem auch deutschsprachige, Länder und Regionen übertragen lassen. Und ich werde in diesem Zusammenhang auch in erster Linie über die Primar- und Sekundarstufe sprechen, also über Schule im klassischen Sinne. Ich werde die Kleinkindpädagogik weitestgehend ausklammern, was sehr schade ist, weil es wahnsinnig wichtiger Bereich ist, wenn es um Mehrsprachigkeit im Bildungssystem geht. Und ich werde auch alles ausschließen, was über die Matura, über das Abitur hinausgeht. Es wird also hauptsächlich um Schüler·innen zwischen grob gesagt 6 und 18 Jahren gehen.

Sprachliche Bildung an österreichischen Schulen

Mehrsprachigkeit ist also der gesellschaftliche Normalfall. Auch in der Schule ist sie ständig “da”. Spätestens mit der ersten Fremdsprache sind alle Kinder auch in einem klassischen, in einem engen Sinne, mehrsprachig. Und das sogar, wenn man die weite Definition vom Mehrsprachigkeit, von der wir hier ausgehen, nicht unterstützt.

Ein Blick in die österreichische Bildungslandschaft zeigt allerdings, dass Mehrsprachigkeit in Österreichs Schulen nicht gleich Mehrsprachigkeit ist. Aber fangen wir am Anfang an.

Das österreichische Bildungsministerium listet sprachliche Bildung als sogenanntes Bildungsanliegen. Damit sind Themen gemeint, die nicht einem Schulfach zugeordnet werden können, sondern ganz allgemein für die persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung der Schüler·innen wichtig sind und eine gesellschaftliche Relevanz haben.

Das Ministerium versteht unter sprachlicher Bildung Maßnahmen zur Förderung der Bildungssprache Deutsch, zur Leseförderung sowie zum Fremdsprachenlernen, zum muttersprachlichen Unterricht und zum Minderheitenschulwesen.

Also es geht um (1) Deutsch, hauptsächlich Deutsch, um (2) Lesen, hier wird keine Sprache genannt, es ist also davon auszugehen, dass auch nur in Deutsch gelesen werden muss, um (3) Fremdsprachen, um (4) sogenannte “Migrationssprachen”, ich werde heute vermutlich eher von Familiensprachen sprechen, und es geht um (5) Minderheitensprachen.

Für Österreich ist es wichtig dazuzusagen: Wir unterscheiden zwischen Migrationssprachen und Minderheitensprachen, leider immer noch. Migrationssprachen wären demnach alle Sprachen sogenannter neuer Minderheiten, für Österreich wären das sehr viele, Türkisch zum Beispiel, Serbisch, Bosnisch, Farsi und so weiter. Minderheitensprachen sind in Österreich solche, die von gesetzlich anerkannten Sprachminderheiten gesprochen werden. Und die aufgrund der gesetzlichen Verankerung gewisser Minderheitensprachenrechte unter anderem in geographisch begrenzten Landesteilen auch das Recht auf Schulbildung (bis zur Matura) haben. Das hat mit historischen Entwicklungen seit dem Habsburgerreich zu tun. Man spricht deshalb auch von alten Minderheiten, von autochthonen Minderheiten. Das würde den Rahmen der heutigen Folge allerdings sprengen. Von diesen Minderheiten gibt es derzeit, und wird es vermutlich auch in Zukunft nie mehr geben als, sechs. Die Österreichische Gebärdensprache (landesweit), Slowenisch im Süden des Landes, Romanes und Kroatisch bzw. Burgenlandkroatisch im Osten sowie Ungarisch und Tschechisch in der Hauptstadt, Wien.

Doch das nur so am Rande. Um diese Sprachen geht es in der Debatte um Mehrsprachigkeit in der Schule selten. Diese Sprachgemeinschaften haben ihre eigenen Schulen, ihre eigenen Systeme, ihre eigenen Diskurse.

Wenn es um Mehrsprachigkeit in der Schule geht, geht es fast immer um die „anderen“ Sprachen. Die, die nicht schon seit eh und je zu Österreich gehören. Die, die von noch weiter her kommen. Die, die die deutschsprachige Einsprachigkeit der restlichen Schulen in Österreich „gefährden“ würden. All jene Familiensprachen, mit denen sehr viele Kinder heute in die Schule kommen.

Werfen wir noch einmal einen Blick in die offiziellen Ziele der sprachlichen Bildung in Österreich.

Im Ministerium heißt es weiter: „Bildung ist immer auch sprachliche Bildung. Gute Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit im Schulsystem und zur erfolgreichen Nutzung vorhandener Potenziale.“

Klingt soweit gut. Sprachkenntnisse mit Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen, ist vielleicht ein bisschen selbstironisch, aber das wird erst beim Weiterlesen deutlich. Doch der Hinweis auf vorhandene Potenziale, aus denen durch sprachliche Bildung geschöpft werden kann, gefällt mir persönlich eigentlich ganz gut. Nur leider geht es dann auch gleich weiter im Text: „Ein wesentlicher Beitrag zur Chancengerechtigkeit bereits in der Schuleingangsphase ist daher die Förderung der Unterrichtssprache Deutsch.“

Das heißt im Grunde nichts anders als: Sprachkenntnisse erwerben und dadurch Potenziale entfalten geht nur auf Deutsch.

„Deutschförderklassen“

Das deckt sich mit der Begründung für die Einführung sogenannter Deutschförderklassen bzw. Deutschförderkursen, in denen Kinder mit „mangelhaften“ bzw. „ungenügenden“ Deutschkenntnissen möglichst rasch Deutsch lernen sollen. Das übliche Zeitfenster liegt bei einem Semester. Danach erfolgt eine weitere Überprüfung der Sprachkenntnisse. Insgesamt ist die Förderung auf maximal zwei Jahre angelegt.

Entweder parallel zum regulären Unterricht in Förderkursen oder — falls die Deutschkenntnisse als „ungenügend“ für den regulären Unterricht befunden werden — in separaten Deutschklassen. Darauf, wie sinnvoll — oder eher sinnlos — ich diese Trennung der Kinder nach sprachlichen Kriterien halte, werde ich im nächsten Teil genauer eingehen.

Um den Förderbedarf bzw. auch die Förderwürdigkeit der Kinder zu bestimmen, werden unterschiedliche Messinstrumente eingesetzt. Sowohl als Basis für die Zuteilung zu einer Förderklasse oder einem Förderkurse, als auch unabhängig davon als Förderdiagnoseinstrument während des Unterrichts.

Beobachtungsverfahren, mit denen man Förderbedürfnisse von Schüler·innen im Unterricht und über einen langen Zeitraum hindurch erheben kann, haben durchaus ihre Berechtigung und sprechen auch nicht grundsätzlich gegen die Definition von Mehrsprachigkeit, die ich am Anfang der Folge genannt habe.

Einheitliche und standardisierte Testverfahren wie etwa das MIKA-D-Verfahren, das derzeit in Österreich zum Einsatz kommt, wurden aber schon mehrfach von wissenschaftlicher Seite kritisiert. Was umso bedeutender ist, da diese Standardtests durch eine Momentaufnahme über die weitere Schullaufbahn der betroffenen Schüler·innen entscheidet.

Doch auf wissenschaftliche Expertise wird in solchen Fällen selten Wert gelegt. Sprachtests haben einfach zu verwenden zu sein und möglichst zeitökonomisch. Und das erfüllt das aktuelle Verfahren offensichtlich: der testende Pädagoge bzw. die testende Pädagogin braucht laut Leitfaden max. 20-30 Minuten pro Kind. Bingo! Genau das ist es, was gute sprachliche Bildung ausmacht: möglichst wenig Aufwand.

Zu guter Letzt wird — um jetzt dieses grobe Bild von sprachlicher Bildung in Österreich abzurunden —, wie in den meisten anderen Ländern auch, deutlich zwischen Fremdsprachenunterricht auf der einen und Muttersprachlichem Unterricht auf der anderen Seite unterschieden.

Fremdsprachenunterricht

Fremdsprachenunterricht hat natürlich auch in Österreich einen hohen Stellenwert im Schulsystem. Meist beginnen Kinder bereits in der Primarstufe mit der ersten Fremdsprache, in den allermeisten Fällen handelt es sich dabei um Englisch. Der Fremdsprachenunterricht orientiert sich an der offiziellen EU-Sprachenpolitik, nach der in der Zukunft jede·r Europäer·in zusätzlich zu seiner oder ihrer Erstsprache noch zwei weitere Sprachen sprechen soll. Fremdsprachenunterricht in zwei lebenden Fremdsprachen ist in Österreich daher Teil des regulären Lehrplans, und somit fixer Bestandteil jedes Stundenplans. Nach Englisch als erster Fremdsprache ist das in Österreich meist Französisch. Auch Spanisch und seltener Italienisch werden zum Teil als alternatives oder als Wahl-Pflichtfach angeboten.

Für die in der Schule gelernten Fremdsprachen gelten die Kompetenzen und die Standards die im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen festgelegt wurden. Dadurch, dass sich der Unterricht an diesem Referenzrahmen orientiert, soll es den Schüler·innen ermöglicht werden, sowohl im Bereich der Aus- und Weiterbildung als auch im Beruf mobil zu sein. Zudem erleichtern Mobilitätsprogramme wie Erasmus+ Auslandsaufenthalte.

Der Vollständigkeit halber muss ich an dieser Stelle auch sogenannte Bilinguale Unterrichtsmodelle erwähnen. In bilingualen Unterrichtsmodellen wird in zwei Sprachen unterrichtet. Diese Programme richten sich sowohl an einsprachig deutschsprachige Kinder als auch mehrsprachige Kinder. Die Unterrichtsmodelle des bilingualen Bildungsangebots in Wien zum Beispiel sind sehr divers, unter anderem auch deshalb, weil der zweisprachigen Unterricht meist im Rahmen von Schulprojekten oder Schulversuchen angeboten wird. Das Angebot an solchen Programmen ist allerdings beschränkt. Die Nachfrage überschreitet bei weitem das Angebot.

Abgesehen davon, dass diese Programme hauptsächlich in der Sprachenkombination Deutsch-Englisch zu finden sind. Eine 2011 durchgeführte Studie in Wien hat ergeben, dass von den damals 76 bilingualen Klassen in der Hauptstadt drei Viertel in E und D unterrichtet worden sind. Neben Englisch gibt es auch ähnlich Konzepte in Französich, Italienisch, Kroatisch, Tschechisch und Slowakisch. Am Grundtenor ändert das jedoch wenig. Das Bild von Mehrsprachigkeit, das bleibt, ist: Fremdsprachliche Kenntnisse sind wichtig. Aber bitte nur in Englisch. Und eventuell noch in anderen großen “Kultursprachen” oder Minderheitensprachen im österreichischen Sinne.

Damit sind wir wieder beim regulären Fremdsprachenunterricht in öffentlichen Schulen: Mehrsprachigkeit ist prinzipiell etwas Gutes. Zumindest solange der mehrsprachige Mensch ursprünglich einsprachig war, und die Sprachen, die er oder sie in der Schule lernen soll, prestigeträchtig sind und grundsätzlich “fremd” bleiben.

Anders sieht es mit der sogenannten lebensweltlichen Mehrsprachigkeit aus. Mit der Verwendung von mehreren Sprachen, die nicht unbedingt als Fremdsprachen, sondern vielleicht als Erstsprachen oder Zweitsprachen oder weiteren Sprachen erworben wurden. In österreichischen Schulen sind das in den wenigsten Fällen Englisch oder Französisch. Oft sind es Türkisch, Kurdisch, Serbisch, Bosnisch. Ich will die Liste hier ja eigentlich nicht enden lassen, damit nicht der Eindruck entsteht, es gäbe hier wichtigere und weniger wichtige Sprachen.

Aber eines haben sie alle gemeinsam, all diese Sprachen werden nicht im regulären Unterricht gelehrt. Sie finden ihren Platz im sogenannten Muttersprachlichen Unterricht.

Muttersprachlicher Unterricht

Muttersprachlicher Unterricht wird vom Bildungsministerium dargestellt als Reaktion auf die Heterogenität von Lebensentwürfen in den Klassenzimmern, die wiederum mit der Vielfalt in einer multikulturellen Gesellschaft zusammenhängen würde. Also wir sehen schon zu Beginn: Es wird hier auf ein vermeintliches Problem reagiert: nämlich eine, Zitat, “beträchtliche” sprachliche Vielfalt, konkret jetzt in der Klassengemeinschaft, in der Schulgemeinschaft.

Von respektvollem und solidarischem Zusammenleben und zusammen Lernen ist hier die Rede. Von Zukunftschancen, Weiterbildung und Schlüsselqualifikationen für den Beruf allerdings nicht mehr. Migrationssprachen haben einen anderen Stellenwert im Schulsystem als Fremdsprachen.

Damit möchte ich nicht das Konzept des Muttersprachlichen Unterrichts an sich kritisieren. Auch nicht das der “Interkulturellen Bildung”, denn die Normalisierung vielfältiger Lebensentwürfe und das sich Bewusstwerden des eigenen Standpunkts sind definitiv wichtige Dinge. Auch wenn ich die österreichische Gesellschaft nicht unbedingt als multikulturell beschreiben würde. Meines Erachtens wäre hier ein offeneres Konzept wie das der Transkulturalität angemessener. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Muttersprachliche Unterricht befindet sich allerdings in einer paradoxen Situation. Einerseits gilt er in der Literatur als Paradebeispiel in internationalen Ländervergleich, weil Österreich den Muttersprachlichen Unterricht als eines der wenigen Länder staatlich organisiert, es gibt also einen einheitlichen Lehrplan, die Lehrer·innen werden von zentraler Hand eingestellt und ausgebildet. Aber genau hier wird oft auch enormer Nachholbedarf verortet. Die Ausbildung beschränkt sich auf einen einzigen Weiterbildungslehrgang, der ausschließlich in der Bundeshauptstadt Wien absolviert werden kann. Eine Einbildung in die reguläre Ausbildung aller Pädagog·innen fehlt bislang zur Gänze. Auch die Anzahl der Wochenstunden könnte durchaus höher sein.

Aber egal ob man von einem Paradebeispiel oder von Entwicklungspotential sprechen möchte, die Unterscheidung zwischen bildungssprachlicher und lebensweltlicher Mehrsprachigkeit, die Unterscheidung zwischen förderlichen und nicht förderlichen Sprachen kommt im Großteil der österreichischen Schulen deutlich zum Vorschein.

Mehrsprachliche Unterrichtskonzepte, die nicht den Erwerb einer Fremdsprache, “Muttersprache” oder Bildungssprache zum Ziel haben, sondern die Entwicklung und Entfaltung des gesamten Sprachrepertoires aller Kinder, und zwar innerhalb und außerhalb der traditionellen Sprachenfächer, werden bislang noch äußerst selten umgesetzt. Und werden auch uns erst wieder in der letzten Folge dieser Serie begegnen.

Das ist im Großen und Ganzen die aktuelle Sprachensituation an Österreichs Schulen.

Doch wie sieht es nun auf der Mikroebene aus? Wie wird Mehrsprachigkeit im und um den Unterricht gefördert, genutzt, gelebt?

Wir werden auf die sozialen Aspekte dieser Frage erst nächstes Mal und auf die pädagogisch-didaktischen Aspekte erst beim letzen Mal zu sprechen kommen.

Mehrsprachigkeit in der Ausbildung

Doch einen weiteren wichtiger Punkt, der natürlich absolut nicht von der Bildungspolitik zu trennen ist, möchte ich schon heute kurz ansprechen: nämlich die pädagogische Ausbildung. Wissenschaftliche Studien zeigen immer wieder, dass die beste, ausgeklügeltste, inklusivste Unterrichtsmethode nichts bringt, wenn sie nicht von den Fachkräften mit vollem Einsatz in die Klasse getragen wird.

Was bräuchte es also? Es bräuchte eine theoretisch fundierte sprachsensible Ausbildung. Und zwar eine, die den angehenden Pädagog·innen die Möglichkeit bietet, erstens sich selbst als mehrsprachige Sprecher·innen in einer mehrsprachigen Welt kennenzulernen. Und die ihnen zweitens ermöglicht, mehrsprachige pädagogische Zugänge und didaktische Methoden und Materialien zu finden, zu erproben, selbst herzustellen und schließlich auch flexibel damit umzugehen.

Der österreichische Lehrplan, jetzt am Beispiel für die Sekundarstufe, also für alle zwischen 10 und 18 Jahren, hat diese Anforderungen an die Pädagog·innen bereits festgeschrieben:

„Eine allfällige Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern wird als wertvolle Ressource gesehen und nicht nur in jenen Unterrichtsgegenständen genutzt, die sich primär mit Sprache beschäftigen. […] Besondere Bedeutung kommt der Ermutigung durch die Lehrerinnen und Lehrer zu, sprachliche Ressourcen in der Klasse zu nutzen.“ (Lehrplan der Neuen MS, S. 8)

Bildungspolitisch gesehen steht einer mehrsprachigen Unterrichtspraxis also eigentlich nichts im Wege. Zugegeben, der Lehrplan ist etwas holprig formuliert — man geht auch hier wieder von einer “allfälligen” Mehrsprachigkeit aus und nicht von einer allgemeinen  — und er ist auch sehr vorsichtig formuliert: die Lehrer·innen sollen hier lediglich “ermutigen”. Aber trotzdem: die Mehrsprachigkeit ist im Lehrplan angelangt. Bleibt also die Frage: Warum ist sie immer noch so selten?

Vorteile von Mehrsprachigkeit

An der wissenschaftlichen Datenlage kann es nicht liegen. Es konnte mittlerweile mehrfach gezeigt werden, dass Kinder, die mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen ihre bereits vorhanden sprachlichen Kompetenzen auch in weiteren Sprachen nutzen können.

Auch gute Lesekompetenzen in der oder den Erstsprachen wirken sich vorteilhaft auf das Lesen in weiteren Sprachen aus. Das heißt, wenn ein Kind zum Beispiel mit Türkisch aufwächst, ist es förderlich diesem Kind auch das Lesen auf Türkisch beizubringen, da es dadurch sein metasprachliches Bewusstsein stärkt und dieses dann für das Lesenlernen auf Deutsch zum Beispiel nutzen kann.

Die Vorteile beschränken sich aber nicht nur auf Sprachwissen per se und Lesekompetenzen. Auch Lern- und Kommunikationsstrategien, die ein Kind — egal welchen Alters übrigens — beim Erwerb oder beim Lernen “früherer” Sprachen entwickelt hat, begünstigen den Erwerb weiterer Sprachen.

Gründe dafür, die mehrsprachigen Kompetenzen der Schüler·innen zu nutzen und ihr gesamtes sprachliches Repertoire quasi anzuzapfen, gäbe es also viele. Studien zur Wirksamkeit mehrsprachiger Ansätze auf Unterrichtsebene haben sich mittlerweile zum Großteil als förderlich für die Lernleistungen der Schüler·innen erwiesen, nicht nur in den Sprachenfächern. (Quelle)

Auch konkrete mehrsprachige Unterrichtsmaterialien (z. B. hier oder hier) wurden mittlerweile im und für den deutschsprachigen Raum rezipiert und entwickelt. Die meisten davon können auch von Lehrkräften eingesetzt werden, die selbst nicht (im engen Sinne) mehrsprachig sind oder zumindest die Sprachen, die in ihren Klassenzimmern gesprochen werden, selbst nicht beherrschen. Welche Ansätze das sind und wo man passende Materialien findet, darauf möchte ich im letzten Teil dieser Serie eingehen.

Was heißt das also? MSP ist grundsätzlich natürlich und gut, sie fördert das Lernen — nicht nur das Sprachenlernen. Mehrsprachigkeitspädagogik erfordert nicht zwangsläufig selbst mehrsprachig zu sein (im engeren Sinne), und es häufen sich die Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass mehrsprachiger Sprachunterricht einen positiven Effekt auf das Sprachbewusstsein der Lernenden haben kann.

Soweit die Theorie. Im Klassenzimmer sieht die Sache allerdings anders aus.

Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer

Europaweite Studien haben gezeigt, dass Lehrer·innen Mehrsprachigkeit im Grunde positiv bewerten. Praktisch sehen sie Mehrsprachigkeit aber als Hindernis für ihren Unterricht. Sprachenvielfalt und mehrsprachige Praxis im Klassenzimmer werden als Lernhindernis gewertet und nicht als Unterrichtsressource genutzt. (Quelle)

Eine aktuelle Untersuchung aus Österreich zum Beispiel zu den Einstellungen zur Mehrsprachigkeit von Englischlehrern·innen in allgemeinbildenenden höheren Schulen und Mittelschulen, also in der Sekundarstufe, hat ergeben, dass nur wenige Lehrer·innen denken, dass der Englischunterricht ihre Schüler·innen mit nicht-deutscher Erstsprache dabei unterstützt, Deutsch zu lernen. “Mehrsprachige Pädagogik” wird generell nur selten eingesetzt.

Auch die Autor·innen dieser Studie sehen einen wichtigen Schritt Richtung Mehrsprachigkeit daher in der Verbesserung der Lehrer·innenausbildung. Denn die besten Methoden und eindeutigsten Forschungsdaten nutzen nichts, wenn sie im Unterricht nicht eingesetzt werden.

Dass die Hierarchisierung von Sprachen und die — gewollte oder ungewollte — Ausrichtung des Unterrichts an einer einsprachig deutschsprachigen Norm nicht nur vorhandene sprachliche und andere Kompetenzen der Kinder ignoriert, sondern auch zu Ausschluss und Diskriminierung innerhalb der Schulgemeinschaft führen kann, zeigt sich, wenn man die Schulsprachenpolitik unter dem diskriminierungskritischen Blick des sogenannten Neo-Linguizismus betrachtet.

Aber dazu mehr in der nächsten Folge.

Fazit

Was können wir aber von heute schon mal mitnehmen:

Mehrsprachig zu sein ist in österreichischen Schulen kein Honigschlecken. Schule ist auch heute noch vornehmlich einsprachig. Vor allem Kinder, die die “falschen” Sprachen sprechen — also weder Deutsch, eine prestigeträchtige Sprachen wie Englisch oder Französisch oder eine anerkannte Minderheitensprache als Erstsprache haben — werden benachteiligt.

Anstatt integrativer Förderung und Stärkung ihres gesamten sprachlichen Repertoires wird der Schulalltag von Tests und weiteren Messinstrumenten bestimmt, von denen nicht alle wissenschaftlichen Standards standhalten. Dafür eignen sie sich bestens, um „die sprachliche Spreu vom Weizen zu trennen“. In separaten Deutschförderklassen sollen sie ohne Kontakt zu ihren Deutsch sprechenden Mitschüler·innen Deutsch lernen, um in einer “Regelklasse” mitzukommen. Während der monotonen Deutschförderung in diesen Klassen bleiben aber nicht nur anderes fachliches Wissen, sonder auch ihr restliches sprachliches Repertoire auf der Strecke.

Die politische Hilflosigkeit hinter diesen Maßnahmen spiegelt sich im öffentlichen Diskurs wider. Der Gedanke an Mehrsprachigkeit bei Kindern und hier besonders bei Schüler·innen verunsichert nicht nur Entscheidungsträger·innen, sondern auch Eltern und Pädagog·innen. Wie wirkt sich die Mehrsprachigkeit der Kinder auf ihr Lernen aus? Auf ihre Sprachkompetenzen allgemein?

Es hat sich herausgestellt, dass viele der Unsicherheiten, der Fehleinschätzungen, der Einstellungen zu Mehrsprachigkeit daher rühren, dass die Schule bis heute als einsprachiger Ort gesehen wird. In der Schule wird Einsprachigkeit immer noch als Norm gesehen. Mehrsprachigkeit, die durch das Erlernen von Fremdsprachen entsteht, ist erwünscht, da sie als „additive Einsprachigkeit“ konzipiert werden kann. Das Kind ist grundsätzlich deutschsprachig und kann dann halt auch Englisch.

Lebensweltliche Mehrsprachigkeit, wie sie von knapp einem Viertel der österreichischen Schüler·innen — in Wien sind es mehr als die Hälfte —  tagtäglich praktiziert wird, wird vor diesem Hintergrund abgewertet, weil sie das einsprachige Schema zu sprengen scheint und noch dazu mit den “falschen” Sprachen. Kompetenzen auf Englisch werden als förderlich für Beruf und Mobilität gewertet, Kompetenzen auf Türkisch, Kurdisch oder Farsi stören Zusammenhalt, Solidarität und Lernklima, wenn die “betroffenen” Schüler·innen nicht entsprechen interkulturell gebildet werden.

Doch:

Die Schule darf unsere Kinder heute nicht mehr einsprachig machen, um sie im Anschluss wieder fremdsprachig zu machen.

Die Forschung zeigt mittlerweile eindrücklich: Mehrsprachigkeit steht nicht im Gegensatz zur Bildungssprache Deutsch. Sprachförderung ist nicht nur Deutschförderung. Und sprachliche Bildung als Arbeit an und Arbeit mit ganzheitlichen und diversen sprachlichen Repertoires ist in allen Fächern und allen Sprachen für alle Kinder da.

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Eine Auswahl Methoden für Mehrsprachigkeit im Unterricht