Du liest gerade diesen Beitrag. Vielleicht weil du etwas Neues lernen willst. Vielleicht weil meine Meinung zum Thema wissen möchtest. Vielleicht auch, weil du etwas ganz anderes gesucht hast und dich die Suchmaschine deines Vertrauens hierhergeschickt hat. Auf jeden Fall kannst du ihn aber lesen, weil ich ihn geschrieben habe. Was ist denn nun wichtiger? Du, der/die du liest? Oder ich, die ich schreibe? Ich möchte informieren, kritisches Denken anregen, Menschen dabei unterstützen, (ihre) Kinder bestmöglich beim Lesen- und Schreibenlernen zu begleiten. Doch was bringt mein Text, wenn ihn niemand liest? Lesen und Schreiben sind untrennbar miteinander verbunden. Auch während des Schriftspracherwerbs.

Doch was kommt zuerst? Das Lesen oder das Schreiben? Was stößt das Lesen- und Schreibenlernen an? Beginnt der Prozess mit dem Lesen oder mit dem Schreiben? Und wie können wir als Erwachsene diesen Prozess zu Hause unterstützen? Um diese Fragen geht es im folgenden Beitrag. Zu den anderen Beiträgen dieser Serie zum kindlichen Schriftspracherwerb geht es hier und hier.

Lesen oder Schreiben?

Zur Frage, wie Kinder am besten lesen und schreiben lernen, gibt es eine Vielzahl nicht nur gesellschaftlicher, sondern auch schulischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Jeder einzelne der mittlerweile unzähligen didaktischen Zugänge beansprucht für sich, der wirkungsvollste zu sein. Doch empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein direkter Vergleich zwischen den Ansätzen kaum möglich ist. Denn in den meisten Fällen spielen die unmittelbare Anwendung einer Methode in der Klasse sowie das fachliche und didaktische Vorwissen und die Einstellungen der Lehrkraft weitaus größere Rollen als die Methode an sich.

Was bedeutet das nun für die Begleitung in die Schriftsprache zu Hause? Was können wir als Eltern, Großeltern und andere Bezugspersonen aus den Kontroversen um die “perfekte” Vermittlung von Schriftsprache lernen, um es dann selbst mit unseren Kindern anzuwenden?

Da zu Hause vermutlich selten wie im Schulunterricht mit Fibeln gearbeitet wird, möchte ich in diesem Beitrag ein paar Alternativen zur Arbeit mit Fibeln vorstellen, deren didaktische Ansätze auch für die Lese- und Schreibbegleitung in der Familie angepasst werden können.

Lautorientierte vs. schriftorientierte Verfahren

Alternative didaktische Ansätze lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: lautorientierte und schriftorientierte Verfahren. Lautorientierte Verfahren nehmen die Beziehung zwischen Buchstabe und Laut (Graphem-Phonem-Korrespondenz) oder die Sprechsilbe als Ausgangspunkt, während sich schriftorientierte Verfahren in erster Linie an der Schrift orientieren. Nicht immer lassen sich einzelne Ansätze eindeutig einer der beiden Seiten zuordnen.

Es kann aber sinnvoll sein, ein paar der bekanntesten Ansätze zu vergleichen, um daraus Tipps für die Schriftsprachförderung zu Hause abzuleiten.

Lesen durch Schreiben

Ausgehend von reformpädagogischen Zugängen (z. B. Montessori, Freinet, …) entwickelt Jürgen Reichen Anfang der 1980er-Jahre seinen Ansatz “Lesen durch Schreiben”. Wie der Name bereits verrät, wird hier dem Schreiben ein sehr hoher Stellenwert zugeschrieben.

Am Anfang der alphabetischen Phase übernimmt das Schreiben eine dominante Funktion. Kinder sollten also dazu ermutigt werden, von Beginn an eigenständig Texte zu verfassen. Die “erwachsensprachliche” Orthographie spielt in dieser Zeit (noch) keine Rolle. Die Rechtschreibung wird erst Thema, wenn die Kinder bereits schreiben und lesen können. So können sie das Schreiben als sinnvollen Prozess wahrnehmen, bei dem sie selbstständig eigene Schreibideen umsetzen und mit ihren Texten kommunizieren können.

Um es den Kindern zu ermöglichen, diese eigenständigen Schreibprodukte herzustellen, wird ihnen eine sogenannte Anlauttabelle zur Verfügung gestellt. In dieser finden sich Grapheme (Buchstaben und Buchstabenkombinationen wie etwa , oder ) mit jeweils einem Bild, auf dem ein entsprechendes Anlautwort dargestellt ist. Eine Hose für H, ein Drache für D.

Beispiel für eine Anlauttabelle aus dem Zebra-Lehrwerk aus dem Klett-Verlag.

Um etwa das Wort Elefant zu verschriftlichen, muss ein Kind zunächst das anlautende /e/ im Lautstrom isolieren, das Wort, das mit beginnt, in der Tabelle suchen und den Buchstaben E dann aufschreiben. Bei Vokalen sind immer zwei Dinge abgebildet, die jeweils die offene und die geschlossene Version des Vokals darstellen. Bei E sind das meist ein Esel (geschlossen) und eine Ente (offen). Weiter geht es mit dem /l/. Der Laut muss zuerst isoliert werden, dann das entsprechende Anlautwort in der Tabelle gesucht werden und schließlich der Buchstabe L hingeschrieben werden. So fährt das Kind fort, bis es bei /t/ bzw. T angelangt ist.

Durch die Arbeit mit dieser Tabelle entdeckt das Kind die Graphem-Morphem-Beziehungen quasi selbstständig. Mit der oben beschriebenen Lautanalyse (Elefant) kann es sich allerdings nur an der gesprochenen Sprache orientieren. Es ist daher nur natürlich, dass dabei (Rechtschreibung-)Fehler auftreten. Auf der Basis einer Anlauttabelle hätte ein Kind mit farat den Drahtesel, mit dem es jeden Tag in den Kindergarten fährt, vollkommen richtig verschriftet.

Das Lesen, bei dem das Analyse-Synthese-Problem umgekehrt gelöst werden muss (das Kind muss die einzelnen Grapheme auf dem Papier zunächst in Laute übersetzen und diese anschließend in einen Lautstrang zusammenschleifen), würden Kinder laut Reichen dabei praktisch nebenbei lernen.

Doch gerade diese Anlauttabelle ist vielfach kritisiert worden. Die Phonemanalyse, die Kinder leisten müssen, um mit dieser Tabelle arbeiten zu können, ist nämlich sehr komplex. Vor allem Kinder, die noch über wenig Schrifterfahrung verfügen, kann die Tabelle demotivieren, weil sie für sie sehr unübersichtlich ist.

Eine Anlauttabelle wie sie Reichen vorschlägt und die Kindern das freie Schreiben erleichtern soll, ist vor allem dann nützlich, wenn der Umgang mit ihr zunächst von einer leseerfahrenen Person unterstützt wird und sich das Kind gerade in einem Abschnitt der alphabetischen Phase befindet, in dem es sich vorrangig mit Laut-Buchstaben-Zusammenhängen beschäftigt. Über die alphabetische Phase hinaus, also wenn es schließlich darum geht, Rechtsschreibphänomene zu entdecken, ist die Tabelle nicht (mehr) geeignet.

Schriftsprache entdecken

Ausgehend von der Annahme, dass sich einzelne Phoneme nicht aus dem Sprachstrom (oder anders: einem Wort) isolieren lassen, entwickeln zunächst Christa Röber und später auch Ursula Bredel et al. andere Ansätze, bei denen die Schreibsilbe als Ausgangspunkt für das Lesen und später das (Recht-)Schreiben dient. Insofern handelt es sich bei diesen Ansätzen um (eher) schriftorientierte Verfahren. Hier steht — im Gegensatz zu Reichen — das Lesen im Mittelpunkt.

Es gibt jedoch auch Zugänge, die zwar silbische Strukturen in den Fokus rücken, dabei aber lautorientiert arbeiten. Sie gehen also nicht von der Schreibsilbe (Röber, Bredel et al.), sondern von der Sprechsilbe aus. Beispiele wären in etwa die Freiburger Rechtschreibschule (FRESCH) oder das ABC der Tiere. Hier werden vorrangig Methoden wie das Silbenschwingen oder -klatschen eingesetzt.

Vertreter·innen schriftorientierter Ansätze bezweifeln, dass Schreiben durch “hinhören” gelernt werden kann. Damit richten sie sich explizit gegen die Verwendung von Anlauttabellen. Je nach Lautumgebung hört sich ein bestimmter Laut nämlich anders an. Das “Zusammenbauen” von Wörtern aus einzelnen Lauten sei dadurch nicht möglich. Eine besonders detaillierte und wissenschaftlich fundierte Darstellung dieser Problematik findet sich bei Bredel et al. (2011).

Durch genaues Hören würden sich Kinder die Regeln der Orthografie nicht erschließen können. Ein Beispiel: Die Regel “Nach kurzem Vokal steht ein Doppelkonsonant.” führt zu Falschschreibungen wie ann (statt an) und liefert keine Erklärung für die unterschiedliche Schreibung für Wörter, die sich eigentlich gleich anhören wie etwa Kante und kannte.

Aus dieser Perspektive werden auch Methoden kritisiert, die sich an der gesprochenen Silbe (statt an der geschriebenen) orientieren. Übungen wie das Silbenklatschen oder -schwingen wären demnach nicht dazu geeignet, über die Strukturen der Schrift zu reflektieren, da sie dazu führen würden, die “natürlich” Aussprache an den Klatsch- oder Schwingrhythmus anzupassen.

An Beispielwörtern mit Doppelkonsonanten lässt sich dieses Problem gut erklären: Wenn Kinder geübt haben, in Wörtern, in denen ein Konsonant doppelt vorkommt, beide Konsonanten auszusprechen (Pup-pe), tendieren sie dazu, diese “Regel” auch auf Wörter anzuwenden, in denen in der Schriftsprache eigentlich gar kein Doppelkonsonant vorkommt (Stuf-fe).

Trotz der starken Verankerung in einer schriftlinguistischen Basis, ist auch dieser Ansatz bislang kaum in der Praxis untersucht worden. Es fehlen also — wie bei den anderen Ansätzen — empirische Daten, um die Auswirkungen  auf den Schriftspracherwerb zu überprüfen.

Zeit für die Schrift

Weniger modellhaft als die eben vorstellten Ansätze der Silbenmethode ist das Unterrichtskonzept von Mechthild Dehn und Petra Hüttis-Graff. Im Zentrum dieses sehr offenen Ansatzes steht das Beobachten der Kinder. “Was kann das Kind schon? Was muss es noch lernen? Was kann es als Nächstes lernen?” (Dehn/Hüttis-Graff 2007, zit n. Jeuk/Schäfer 2021) Die Autorinnen stellen eine Mischung aus individuellen Lernhilfen und Beobachtungsinstrumenten bereit, mit denen es einer Lehrkraft gelingen soll, auf die (nur auf den ersten Blick einfachen) Fragen zu antworten.

Die Grundhaltung gegenüber dem kindlichen Schriftspracherwerb, die die Autorinnen mit ihrem Ansatz fördern wollen, lässt sich in vier Thesen (vgl. Dehn/Hüttis-Graff 2013) zusammenfassen:

  • Lesenlernen heißt für das Kind Problemlösen.
  • Schreibenlernen ist eine sprachanlytische Tätigkeit des Kindes.
  • Lernen ist in erster Linie eine Aktivität der Lernenden.
  • Fehler sollten als lernerspezifische Notwendigkeit betrachtet werden.

Dabei wird von Beginn an auf das Rechtschreiben Wert gelegt. Dies geschieht, indem immer wieder Anlässe zur Auseinandersetzung mit den Strukturen der Schrift geschaffen werden.

Die große Offenheit dieses Ansatzes verlangt in der Umsetzung jedoch sehr viel Eigenverantwortung, fachliches Wissen und eine ordentliche Portion Kreativität, um das vielfältige Angebot an die Lerner·innen anzupassen.

Spracherfahrungsansatz

Der Spracherfahrungsansatz von Erika Brinkmann und Hans Brügelmann (2010) ähnelt dem Ansatz von Mechthild Dehn und Petra Hüttis-Graff in weiten Teilen. Das “freie Schreiben” (wie bei Reichen) stellt hier nur eine von vier fundamentalen Säulen des Modells dar.

Der Anfangsunterricht zum Lesen- und Schreibenlernen sollte aus folgenden vier Bausteinen entstehen:

Freies Schreiben eigener Texte

Die Kinder schreiben (oder diktieren) ihre ersten eigenen Texte (z. B. Briefe, Einkaufszettel, Bildunterschriften) mit Hilfsmitteln (z. B. Anlauttabellen). Dabei testen sie ihre eigenen Hypothesen darüber, wie Rechtschreibung funktionieren könnte und probieren gleichzeitig Schreibstrategien aus, indem sie schreiben, “was sie hören”(lauttreues Verschriften).

Gemeinsames (Vor-)Lesen von Kinderliteratur

Das gemeinsame (Vor-)Lesen hat drei wichtige Funktionen. Erstens soll es den Kindern Lust auf Bücher machen und darauf, selbst zu lesen. Zweitens entdecken sie dabei, dass Schriftzeichen eine Bedeutung haben und lernen, wie Texte aufgebaut und geschrieben sind, um später eigene Texte produzieren zu können. Schließlich hilft es ihnen auch, sich Informationen zu holen und sich mit unterschiedlichen Weltansichten auseinanderzusetzen.

Systematische Einführung von Schriftelementen und Leseverfahren

Neben dem eigenen und gemeinsamen Lesen und Schreiben lernen Kinder auch die Form- und Lautvarianten der einzelnen Buchstaben kennen, sie üben die Synthese von Buchstaben zu Wörtern, arbeiten mit Minimalpaaren und lernen, wie sie den Kontext nutzen können, um vorauszusagen, wie ein Text vermutlich weitergehen wird. Gerade für Kinder mit wenig Schrifterfahrung, benötigen bei der Einführung von Buchstaben und anderen Schriftelementen mehr Führung. Diese kann auch durch eine Fibel übernommen werden.

Aufbau und Sicherung eines Grundwortschatzes

Die Kinder sammeln “eigene” und “wichtige” Wörter. Sie lernen, sich im Alphabet zurechtzufinden, um es beim Suchen oder Ordnen von Wörtern einsetzen zu können. Das Ziel dieses Bausteins ist es auch, die Schreibung häufiger Wörter zu automatisieren und verschiedene Rechtschreibmuster an sogenannten Modellwörtern zu üben, um sie dann an ähnlichen Wörtern anwenden zu können. Neben der Arbeit am Grundwortschatz ist hier auch Platz für das Erforschen der Rechtschreibung.

Während die ersten beiden Säulen eher offene Lernangebote vorsehen, geht es in den anderen beiden vorrangig um gesteuertes Lernen. Es handelt sich hier also um einen im Kern lautorientierten, aber dennoch integrativen Ansatz, der sowohl laut- als auch schriftorientierte Elemente enthält. Die Autorinnen gehen davon aus, dass das kindliche Lernen im Tun passiert, auch wenn das bedeutet, dass sie anfangs noch fehlerhaft lesen oder schreiben. Ziel ist es, die Kinder möglichst früh dazu zu ermutigen, aktiv zu werden und sich selbst Dinge zu erlesen oder zu erscheinen.

Das Erlernen von Rechtschreibregeln ist auch in diesem Ansatz wichtig, steht aber immer im Wechselspiel zwischen systematischer “Regelarbeit” und dem großen Handlungsspielraum der Kinder. Um typische Hürden im Schriftspracherwerb auf Deutsch wird es im nächsten Beitrag in dieser Serie gehen.

Heute wollen wir allerdings noch eine zentrale Frage beantworten: Welcher Ansatz ist nun der beste? Und im Anschluss daran: Welcher Zugang eignet sich für die frühe Schriftsprachförderung zu Hause?

Welche Methode ist die beste?

Welcher Ansatz ist nun der beste? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Wie wir bereits eingangs festgestellt haben, spielen nicht nur das Fachwissen der Lehrperson, sondern auch ihre (Sprach-)Einstellungen und die konkrete Umsetzung einer Methode wichtige Rollen im Schriftspracherwerb.

Empirische Studienergebnisse (Weinhold 2009) legen nahe, dass keiner der heute vorgestellten Ansätze noch der ausschließliche Fibelunterricht allein die ideale Lösung sind. Kinder, die mit Fibeln oder mit Schwerpunkt auf der Sprechsilbe unterrichtet werden, zeigen im Vergleich zu anderen weniger Rechtsschreibschwierigkeiten. Kinder, die Lesen durch Schreiben gelernt haben, richten ihre Orthographie am Ende der Volksschule immer noch stark an der alphabetischen Strategie, haben in dieser Zeit aber eine höhere Textkompetenz entwickelt.

Brügelmann (2015) betont allerdings auch, dass die beobachteten Unterschiede eher in der Zusammensetzung der untersuchten Klassen und den Kompetenzen der Lehrkräfte begründet sind.

Es ist daher sinnvoll, möglichst viele verschiedene Zugänge zur Schrift kennenzulernen, sowohl als Lehrperson als auch als Kind, um die unterschiedlichen Methoden wirksam an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen zu können. In einem Faktencheck von Deutschen Grundschulverband werden Vorurteile gegen einzelne Ansätze aus dem Weg geräumt.

Was bedeutet das nun für die Schriftsprachförderung zu Hause? Wie können wir unsere Kinder vor und knapp nach dem Schuleintritt in die Welt der Schriftsprache begleiten?

Schriftsprachförderung zu Hause

Grundsätzlich wird also für jedes Kind ein anderes Verfahren am wirkungsvollsten sein. In jedem Fall wird es sinnvoll sein herauszufinden, mit welchen Materialien ein Kind am besten lernt, was ihm oder ihr am meistens Spaß macht und welcher Ansatz auch uns als Bezugspersonen gut liegt. Wir erinnern uns: Eine Methode ist nur dann wirkungsvoll, wenn wir sie als Lernbegleiter·innen auch selbst für wirkungsvoll halten und dem kindlichen Entwicklungsstand entsprechend umsetzen können.

Für das Lesen- und Schreibenlernen in der Familie suchen wir also nach Methoden, die möglichst anpassungsfähig sind und auch von Bezugspersonen ohne einschlägige Aus- und Vorbildung eingesetzt werden können.

Den größten Spielraum bei der Anpassung der erprobten Ansätze und der bereits entwickelten Materialien ermöglichen die eher lautzentrierten Zugänge von Dehn/Hüttis-Graff und Brinkmann/Brügelmann.

Beide Ansätze stellen das eigenständige Entdecken der Schrift und die Beobachtung der kindlichen Entwicklung in den Mittelpunkt. Dabei geht es neben dem Lesen auch um das möglichst frühe selbstständige Schreiben. Diese Zugänge eigenen sich daher am besten dazu, Kinder spielerisch und beiläufig in familiärem Rahmen an Schriftsprache heranzuführen. Die offene Herangehensweise dieser Zugänge bietet auch Eltern, Großeltern und anderen Bezugspersonen außerhalb der Bildungseinrichtungen zahlreiche Fördermethoden und Spielideen, die die Kinder im (Familien-)Alltag in die Welt der Schriftsprache führt.

Ich möchte heute eine sehr einfache Idee vorstellen, die (noch) keine didaktischen oder bildungstheoretischen Vorkenntnisse der Bezugspersonen voraussetzt. Sie richtet sich vorrangig an Kinder, die sich bereits auf der alphabetischen Stufe befinden und sich Wörter schon selbst erschreiben bzw. erlesen können. Im Spiel werden hier Lese- und Schreibfähigkeiten gleichzeitig gefördert. Das Spiel ist sehr flexibel in der Umsetzung und lässt sich optimal in unterschiedliche Familienalltage eingliedern.

Schatzkiste für geheime Botschaften

Kinder, die bereits (einige) Buchstaben kennengelernt haben, entwickeln in schrifthaltigen Umgebungen irgendwann Interesse daran, selbst Schrift zu Papier zu bringen. Das kann der eigene Name unter einem selbstgemalten Bild sein, eine Wunschliste zum Geburtstag, kleine Nachrichten für geliebte Menschen.

Sobald ein Kind in der alphabetischen Stufe angelangt ist, kann genau dieses Interesse mit unzähligen kleinen und meist sehr einfachen Mitteln gefördert werden. Eine Methode, die bei Nono ab ca. viereinhalb Jahren sehr gut funktioniert hat, ist das geheime Botschaftenschreiben.

Dazu haben wir uns zunächst eine kleine alte Holzkiste mit Deckel gesucht und sie an einem (vor der kleinen Schwester) sicheren Ort versteckt. Wir haben vereinbart, dass wir uns dort geheime Botschaften hinterlassen können. Danach haben wir gleichzeitig, aber jede·r für sich, diese Botschaften auf übriggebliebene Papierschnipsel aufgeschrieben. Nono hat bereits eine laminierte Anlauttabelle, auf der er immer nachsehen kann, wenn ihm die Form eines Buchstabens nicht einfällt. Die Schnipsel haben wir nach Lust und Laune zusammengefaltet oder zusammengerollt und in die Kiste gelegt, sobald wir mit dem Schreiben fertig waren.

Ziel des Spiels ist es, dem Kind zu ermöglichen, neue Kommunikationswege auszutesten. Dabei ist die Form der Kommunikation, solange sie auf ein Stück Papier passt, egal. Die Botschaften können aus einem Wort oder ganzen Sätzen bestehen. Auch Bilder oder Zeichnungen sind natürlich erlaubt.

Für Kinder, die auch sonst gerne Schatzsuchen oder Schnitzeljagden veranstalten, ist dieses Spiel ideal. Das Aufschreiben kleiner Botschaften dauert nicht länger als das Aufzeichnen einer Schatzkarte. Dabei geht sowohl das Schreiben als auch das Lesen spielerisch in der Tätigkeit auf. Lesen und Schreiben werden nicht als langweilige und langwierige Übung wahrgenommen, sondern als notwendige Aktivität während des Spiels.

Das zeigt sich besonders schön an Nonos allererster Botschaft an mich: „Ich möchte noch eine Runde mit dir spielen.“ Er hat sich beim Erschreiben dieser Nachricht nicht an dem orientiert, was er schon konnte, sondern an unserer Beziehung an unserem gemeinsamen Spiel. Die Buchstaben sind nur so aus ihm herausgesprudelt. Er war im Schreibfluss, weil er ein kommunikatives Ziel hatte. Das Ergebnis war orthographisch nicht annähernd „korrekt“, auch Schreibrichtung und unsere herkömmliche Zeilenschreibweise waren für ihn nebensächlich. Doch die Botschaft auf dem Stück Papier war seine eigene. Und nun war sie dort „verewigt“.

Zudem stärkt das geheime Botschaftenschreiben die emotionale Bindung zwischen den Mitspieler·innen (Manchmal möchte man einfach nur “Ich hab dich lieb.” schreiben.) und es ist die perfekte Methode, unbrauchbare Papierschnipsel zu verwerten. Was auch nicht zu verachten ist — für die Ordnung zu Hause und den Planeten.

Für Kinder, die gerade lesen und schreiben lernen, kann es sehr ermächtigend wirken, ein eigenes Schriftstück in der Hand zu halten. Das Gefühl, selbstständig mit Schrift kommunizieren zu können, ohne immer diktieren zu müssen, bestärkt Kinder darin, dass das Entdecken des Schriftsprachsystems der Erwachsenen sinnvoll ist, weil es ihre Beziehung zu anderen Menschen bereichert.

Was ihr dafür braucht:

  • kleine Zettel oder Papierschnipsel
  • Stifte
  • eine kleine “Schatzkiste” (einen alten Schuhkarton, eine Metalldose, ein Stoffsackerl …)
  • ev. eine Anlauttabelle

Mehr praktische Ideen und Materialien zur Unterstützung des frühen Schriftspracherwerbs vor dem Schulbeginn werde ich in einem der kommenden Beiträge in dieser Serie vorstellen.

Buchtipps

In der Zwischenzeit habe ich zwei besondere Buchtipps, die für das gemeinsame Entdecken der Schriftsprache in der Familie geeignet sind.

In ihrem Band “Kinder & Lesen und Schreiben” (2020) erläutert Mechthild Dehn, “was Erwachsene wissen sollten”, wenn es um die wichtigsten Entwicklungsschritte im Schriftspracherwerb geht. Sie schreibt über das Fördern und Fordern der Kinder und über Lernziele, die über das Richtigschreiben hinausgehen. Fazit: Ein praktischer kleiner Helfer für alle engagierten Lernbegleiter·innen in schönem Format und einfacher Sprache, das mit vielen Beispielen und anregenden Empfehlungen zum Ausprobieren punktet.

Mit ihren “Bausteinen für frühen Schriftspracherwerb” liefert Maria Gall Hilfestellungen für hierarchieniedere Leselernprozesse. Es geht in erster Linie um phonologische Bewusstheit, die Phonem-Graphem-Korrespondenz, die Bedeutung der Silbe, die Lautsynthese und die Leseflüssigkeit. In einem abschließenden Kapitel geht die Autorin auf Lesestrategien und Lesefreude ein. Fazit: Die weniger ansprechende Gestaltung sollten ästhetische Leser·innen (wie mich) nicht abhalten. Die kurzen theoretischen Einführungen zu Beginn jedes Abschnitts setzen die angebotenen Spielideen kompakt in einen größeren Kontext, während die vielfältigen Materialien so ausgewählt sind, dass sie an die individuellen Lernbedürfnisse einzelner Kinder angepasst werden könne. Die Auswahl des passenden Materials wird durch Hinweise auf den jeweiligen Lernstand unterstützt.

Weiterlesen

Die Anlauttabelle aus dem Klett-Verlag gibt es hier auch in anderen Ausführungen zum kostenlosen Download.

Buchtipps