Sprachwissenschaftler·innen gehen heute davon aus, dass auf der Erde rund 7.000 Sprachen gesprochen werden. Die größten Sprachen haben Hunderte Millionen von Sprecher·innen. Die Sprecher·innen der kleinsten kann man oft an einer Hand abzählen. Im „Atlas der verlorenen Sprachen“ (2020) beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Rita Mielke die Geschichte und die linguistischen Besonderheiten dieser kleinen Sprachen. Der Verlag (Duden) schreibt das Buch als „hochwertige[n] Atlas zum Stöbern und ‚Darinversinken'“. Dem kann ich mich als Sprachwissenschaftlerin nur anschließen. Eine der Sprachen aus dem Atlas möchte ich in diesem Beitrag vorstellen: die nordamerikanische Mischsprache Michif.

Der Atlas der verlorenen Sprachen

Was mich eigentlich am „Atlas der verlorenen Sprachen“ so gereizt hat, ist, dass er ein Thema aufgreift, mit dem ich mich schon auf der Uni intensiv beschäftigt habe. Es geht nämlich um Sprachen, die entweder nur mehr sehr wenige Sprecher·innen haben oder bereits ausgestorben sind.

Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist ein Buch wie der Atlas natürlich als Freizeitlektüre einzustufen. Man muss, wenn man trotz Freizeit vor der Lektüre kritisch bleibt, über manche Darstellungen, teilweise auch Formulierungen nachdenken, sie im Kopf ein bisschen korrigieren, ins rechte Licht rücken, aber gut, das ist von einem Sachbuch für eine allgemeine Leserschaft auch zu erwarten. Und das ist der Atlas im Grunde ja auch, ein Sachbuch für alle.

Das Buch besteht aus mehreren Kaptiteln, die im Grunde den sieben Kontinenten entsprechen, und es stellt pro Kontinent ca. zehn bedrohte oder ausgestorbene Sprachen.

Wenn die Autorin im Titel von “verlorenen” Sprachen spricht, knüpft sie damit an eine nicht ganz unproblematische Sicht auf Sprachen und Sprache an sich an. Es ist in der Sprachwissenschaft — in ethnolinguistischen Zugängen — durchaus nicht ungewöhnlich, dass das Verschwinden von Sprachen, weil es eben keine Sprecher·innen mehr gibt, mit Rückgang von Biodiverisität in der Natur verglichen wird.

Das heißt Sprachen, die aussterben, werden mit Tier- oder Pflanzenarten, die aussterben, gleichgesetzt. Diese Sichtweise ist auf mehreren Ebenen problematisch. Ich möchte heute nur auf einen Aspekt hinweisen: Und zwar geht es dabei um die Naturalisierung und die Essentialisierung von Sprache. In dieser Perspektive werden Sprachen natürliche Eigenschaften zugeschrieben, so wie wir das bei Pflanzen oder Lebewesen machen. Durch dieses Bild der Natürlichkeit entsteht der Eindruck, dass eine Sprache —  im Singular —  etwas Objekthaftes wäre, in sich geschlossen, in ihrer Identität eindeutig von anderen Sprachen abgrenzbar wäre.

Also alles Dinge, von denen wir in der Folge zu den Sprachideologien davon ausgegangen sind, dass sie ein zu einfaches Bild von Sprache zeichnen würden und dadurch eben Sprache instrumentalisierbar machen für machtpolitische Zwecke, die mit der Hierarchisierung von Sprachen gleichzeititg immer auch in einer Hierarchisierung von Menschen mündet.

Aber das soll alles bleiben, was ich heute fundamental kritisch am Buch anmerken will. Weil: es ansonsten eben doch mit dem Ziel geschrieben worden ist, Horizonte zu erweitern. Und genau das macht es in meinen Augen auch sehr gut.

Alles in allem ist der Atlas also ein schöner Tipp für alle, die sich entweder noch nie mit bedrohten oder ausgestorbenen Sprachen beschäftigt haben oder die wie ich einfach einen schnellen, weil sehr einfach zu lesenden, und vor allem auch sehr ansprechend illustrierten Einstieg suchen in die einzelnen besprochenen Sprachen, um sich danngegebenenfalls noch selbst weiter zu informieren.

Und genau das wollen wir auch heute machen: Ich möchte euch gern mitnehmen in das Buch quasi und euch eine der vielen Sprachen, die hier beschrieben werden, vorstellen.

Aber alles der Reihe nach.

Michif — Eine Mischsprache

Die Sprache, um die es heute gehen soll, ist Michif. Michif wird mittlerweile nur mehr von knapp 1.000 Sprecher·innen in Kanada und kleinen Teilen der USA gesprochen. Die wichtigsten Siedlungsgebiete der Michif-Sprecher·innen liegen im heutigen Saskatchewan und Manitoba in Kanada sowie in North Dakota und Montana im Norden der Vereinigten Staaten.

Das allein macht Michif aber noch nicht zu einer außergewöhnlichen Sprache. Einer schönen Sprache, keine Frage, und einer Sprache mit einer spannenden Geschichte. Doch diese Beschreibung trifft wahrscheinlich auf die meisten Sprachen der Welt zu. Was Michif aber besonders macht, ist seine einzigartige Sprachstruktur und die besonderen politischen und sozialen Umstände ihrer Entstehung.

Das Wort Michif geht auf den Begriff Mitif zurück, mit ursprünglich Menschen “gemischter” Herkunft bezeichnet wurden. Gesprochen wird Michif von den Métis. Bei den Métis handelt es sich um eine der drei großen rechtlich anerkannten ethnischen Gruppen in Kanada. Zum einen sind das die First Nations — zu Deutsch: Erste Nationen — zum anderen die Inuit, die indigene Bevölkerung im Norden von Kanada, und schließlich eben die Métis, über die wir heute sprechen werden. Neben den Métis werden wir uns heute auch mit den Cree beschäftigen, einer der First Nations, deren Sprache sehr eng mit dem Michif verknüpft ist.

Das Michif ist eine sogenannte Mischsprache. Sie ist aufgrund des engen Kontakts zwischen zwei “Ursprungssprachen” entstanden, die die derzeitige Struktur des Michif deutlich prägen. Peter Bakker (1997) spricht in diesem Zusammenhang auch von language intertwining, von Sprachverflechtung quasi, wobei sich die Mischsprache — stark vereinfacht gesagt — von der Grammatikstruktur der einen Sprache einerseits und vom Wortschatz der anderen Sprache andererseits ableitet.

Grundsätzlich sind natürlich alle natürlichen Sprachen als Sprachmischungen aufzufassen. Alle Sprachen entwickeln sich, durch gesellschaftliche Veränderungen, aber auch durch mehr oder weniger intensiven Sprachkontakt im Laufe der Geschichte. Allerdings geht man normalerweise davon aus, dass sich jede Sprache auf die ein oder andere Weise aus einer (einzigen) Ursprache heraus entwickelt hat. Bei Michif ist das jedoch anders: Es hat nämlich nicht eine solche “Muttersprache”, sondern gleich zwei: eine Mutter- und eine Vatersprache quasi, die gleichermaßen zum Wortschatz und zur Grammatik ihrer Tochtersprache beigesteuert haben.

Das Michif ist auf der anderen Seite aber auch abzugrenzen von Pidgin- oder Kreolsprachen. Ein Pidgin wird oft als reduzierte Sprachform bezeichnet, die Menschen mit unterschiedlichen Umgangssprachen als Verkehrssprache, als sogenannte Lingua Franca, dient. Ein Pidgin ist also per Definition nie als Muttersprache zu werten, als Erstsprache, mit der man von klein auf aufwächst, sondern immer als Fremdsprache, die einem ganz bestimmten Zweck dient, und deshalb sowohl im Bereich der Grammatik als auch im Bereich des Wortschatzes wenig ausgebaut ist. Entwickelt sich ein solches Pidgin jedoch tatsächlich zur Muttersprache einer neuen Generation, spricht man von einer Kreolsprache. Wenn eine Pidgin-Sprache diesen Prozess durchläuft, baut sie aber auch ihre Grammatik aus, ihr Wortschatz wird größer und ihre Aussprache wird regelhafter. Bekannte Kreolsprachen sind zum Beispiel das Tok Pisin in Neuguinea, das auf dem Englischen basiert, oder das Palenquero in Kolumbien, das vom Spanischen ausgeht. Auf das Michif trifft jedoch weder die Definiton für ein Pidgin zu noch die für ein Kreol.

Was genau ist also das Michif?

Das wollen wir uns jetzt ein bisschen genauer anschauen. Beginnen wir mit der Geschichte der Michif-Sprecher·innen, also mit der Geschichte der Métis.

Sprachgeschichte

Die Geschichte des Michif beginnt mit dem europäischen Pelzhandel. Also mit der schrittweisen Kolonisierung des amerikanischen Nordens durch Europäer und Europäerinnen. Als im 17./18. Jahrhundert Pelz in Europa sehr gefragt war, sind viele schottische und französische Pelzhändler nach Amerika gefahren, um dort mit den Einheimischen Pelzhandel zu treiben. Als Teil dieser Geschäfte wurden auch indigene Frauen mit den europäischen Händlern verheiratet. Meist handelte es sich dabei um Frauen der Cree, aber zum Teil auch um Frauen aus anderen ethnischen Gruppen, wie zum Beispiel der Ojibwe.

Im Atlas wird das Ganze als “Sprachbund fürs Leben” bezeichnet. Die Autorin weist aber auch darauf hin, dass es sich bei den meisten dieser Ehen wohl eher nicht um Liebesheiraten gehandelt hat. Das Ziel dieser Verbindungen war vermutlich einfach die Festigung der Geschäftsbeziehungen zwischen den sogenannten coureurs de bois (Deutsch: Waldläufer) und der indigenen Bevölkerung. Diese couleurs de bois sind zu Beginn der nordamerikanischen Kolonialgeschichte unabhängig von den großen Handelsgesellschaften im wahrsten Sinne des Wortes durchs Land “gelaufen”, um gemeinsam mit der Urbevölkerung zu jagen und Pelze einzutauschen.

Vor allem für die Frauen waren diese Ehen ein entwurzelndes Ereignis. Indigene Frauen hatten nicht nur mit Diskriminierung aufgrund ihrer Ethnie, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts zu kämpfen. Eine autochthone Frau etwa, die einen nicht autochthonen Mann geheiratet hat, verlor durch diese Eheschließung automatisch ihren rechtlichen Status als Indigene. Métis-Frauen traf diese Regelung mit voller Wucht, denn sie waren alle mit einem Europäer, also einem nicht autochthonen Mann verheiratet. Rechtlich gesehen waren sie also auf sich allein gestellt, weil sie weder unter das staatliche, noch unter das indigene Recht fielen.

Dazu kam, dass ihre Kinder, wie so viele andere indigene Kinder, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in sogenannte residential schools geschickt wurden, Internate, in denen die Kinder unter staatlicher Leitung und mit Unterstützung von christlichen Ordensgemeischaften zu “normalen” Bürger·innen erzogen werden sollten. Dazu haben neben Missbrauch und Misshandlungen auch strikte Verbote von indigenen Bräuchen und eine rigorose sprachliche Assimilierung gehört.

Kinder der Métis hatten es in diesen Internierungslagern besonders schwer — die Bezeichnung “Schule” ist in diesem Zusammenhang vollkommen fehl am Platz. Als “Mischlinge” wurden sie von den anderen Kindern getrennt, sie wurden schlechter versorgt und stärker bestraft. Ihre Herkunftssprachen wurden auch ihnen verboten. Das Hauptziel der Umerziehungsmaßnahmen war die Erziehung zum Englischen oder Französischen. Dadurch hat man sich die Aufgabe der kulturellen Identität erhofft. Ganz nach dem Motto: Kill the Indian, save the man.

Nicht viel anders waren die Erfahrungen außerhalb dieser Anstalten. Die Métis haben weder als “Weiße” gezählt, noch als Cree. Als Ausdruck kultureller, sprachlicher und vor allem einer eigenen Gruppenidentität ist zu dieser Zeit in etwa auch eine eigene Sprache entstanden, die sich — um die einzigartige Geschichte und die einzigartige ethnische Identität noch stärker zu betonen — sowohl an die “Muttersprache” Cree als auch an die Vatersprache “Französisch” angelehnt hat.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Michif zum Forschungsobjekt wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Seitdem wird Michif sogar auch an Schulen und diversen Instituten im Südwesten von Kanada unterrichtet.

Es gibt heute also Bemühungen, das Michif zu revitalisieren, quasi wiederzubeleben. Um die Sprache, die heute trotzdem nur noch von sehr wenigen, meist sehr alten, Sprecher·innen gesprochen wird, sind mehrere Programme ins Leben gerufen worden, die es vor allem jüngeren, interessierten Métis erlauben, die Sprache ihre Vorfahr·innen mit Sprachkursen, Wörterbüchern, Videomaterial und so weiter zu lernen. (Ressourcen am Ende des Beitrags.)

Doch: Wie sieht das Michif nun genau aus?

Sprachstruktur des Michif

Das Michif besitzt zwar grundsätzlich zwei “Elternsprachen”, wird aber auf der Ebene des Wortschatzes auch von anderen Sprachen beeinflusst, wie etwa dem Ojibwe oder vor allem in letzter Zeit ganz stark auch vom Englischen. Englisch ist heute die häufigste Zweitsprache der Michifsprecher·innen sowie auch die häufigste Erstsprache von Métis, die die Sprache ihrer Vorfahr·innen lernen wollen.

Dass Menschen Sprachen mischen, ist durchaus nicht ungewöhnlich. Oft entstehen dadurch Pidgins und später Kreolsprachen. Michif stellt in dieser Hinsicht allerdings eine Besonderheit dar. Das Besondere an Michif ist, dass es sehr komplexe und umfangreiche Anleihen an seine beiden Ursprungssprachen macht. Von einer Vereinfachung der Grammatik und des Wortschatzes kann hier kaum die Rede sein. Zwei Dinge fallen meist sehr schnell ins Auge — oder ins Ohr.

  1. Das Michif entlehnt zu etwa gleich großen Anteilen Elemente aus dem Französischen und aus dem Cree. Wir haben es also nicht mit einer “dominanten” Sprache zu tun, die sich die andere Sprache “einverleibt”. (Es handelt sich also nicht um eine Pidgin- bzw. Kreolsprache.)
  2. Die Elemente aus dem Französischen und aus dem Cree bleiben im Großen und Ganzen getrennt, aber nicht komplett, nicht “perfekt”. (Michif entspricht also auch keiner typischen Mischsprache.)

Zunächst sieht das Ganze noch recht simpel aus:

Die Nomen entnimmt das Michif praktisch fast zur Gänze aus dem Französischen. Außerdem auch die meisten Wörter, die normalerweise so bei einem Nomen dabeistehen, wie etwa die Artikeln oder Adjektive. Dabei folgen die grammatischen Regeln der französischen Grammatik.

Die Verben auf der anderen Seite entnimmt das Michif aus dem Cree. Und zwar nicht nur die Wörter an sich, sondern eben auch die komplexe Morphologie des Cree, das zu den sogenannten polysynthetischen Sprachen gehört. Die Verben im Cree bestehen aus einem Verbstamm, an den an beide Seiten, links und rechts, unzählige Wortteile angehängt werden können, die zusätzliche Informationen vermitteln.

Das ist so ähnlich wie im Deutschen, wo wir an den Verbendungen hören, in welcher Person das Verb gerade steht.

  • ich gehe
  • du gehst

Aber Deutsch zählt zu den flektierenden Sprachen, nicht zu den polysynthetischen. Bei einer polysynthetischen Sprache wie Cree ist dieses System noch viel umfangreicher. Das führt dazu, dass die Verben sehr lang werden können und zum Teil in einem Wort ausdrücken können, wofür wir auf Deutsch oder Französisch einen ganzen Satz brauchen würden.

An einem einfachen Beispiel hört man diese Trennung zwischen Nomengruppe und Verbgruppe ganz gut:

  • la pwee (der Regen, vgl. la pluie auf Französisch)
  • Kimowan. (Es regnet.) 

Diese Trennung zwischen Französisch auf der einen und Cree auf der anderen Seite wird auch dadurch unterstrichen, dass Michif beide phonologischen Systeme erhalten hat. Das heißt französische Elemente werden grundsätzlich “französisch” ausgesprochen, Cree Elemente nach der Aussprache des Cree. Man hört das etwa an der Vokallänge, die nur bei den Verben, die ja aus dem Cree stammen, distinktiv ist, das heißt nur bei den Verben führt der Unteschied zwischen einem langen und einem kurzen Vokal zu einem Bedeutungsunterschied. Auf der anderen Seite kommen Nasale nur in französischen Elementen vor. Das heißt die für das Französische typischen “Nasenvokalen” on, en, un gibt es bei den Cree-Elementen nicht.

Soweit so gut.

Es gibt aber auch eine Reihe von Phänomenen, in denen die beiden Sprachen ineinandergreifen. Hier nur eine kleine Auswahl aus der Nomengruppe, die in der Regel nach französischem Vorbild aufgebaut ist.

Klassifikation

Auf Französisch werden Substantive nur nach Geschlecht (und natürlich nach Numerus) klassifiziert: le—la. Auf Cree gibt es diese Unterscheidung nicht. Hier wird nach belebt — unbelebt unterschieden.

Das Michif wendet nun eine doppelte Klassifikation an: Es klassifiziert Nomen sowohl nach männlich — weiblich, als auch nach belebt — unbelebt. Was psycholinguistisch gesehen, doch eine größere Herausforderung ist. Zumal die Genusklassifikation in erster Linie eine grammatische ist, das heißt es kann nicht unbedingt aus der Umwelt abgeleitet werden, ob ein Substantiv männlich, weiblich, belebt oder unbelebt ist.

Demonstrativpronomen (hinweisende Fürwörter)

Demonstrativpronomen gehören zur Nominalgruppe:

  • cette maison (dieses Haus)
  • ce paysage (diese Landschaft)

Da diese Wörter vor einem Nomen stehen, sollten sie auch aus dem Französischen kommen. Tun sie aber nicht. Sie sind alle aus dem Cree. Mehr noch: Diese hinweisenden Fürwörter tragen dann auch die Markierung für die Information, ob das dazugehörige Nomen belebt oder unbelebt ist, sowie auch für die Information darüber, ob sich das Substantiv in der Nähe des Sprechers oder der Sprecher·in befindet oder weiter entfernt. Das sind Dinge, die in der französischen Grammatik eigentlich irrelevant sind bzw. dort nicht markiert werden.

Wir sehen also: Die Sache mit dem Michif ist nicht ganz so einfach, wie sie auf den ersten Blick aussieht.

Und all diese Dinge zusammengenommen stellen Typograph·innen vor die eine große Frage: Was ist das Michif nun? Ist es Cree mit französischen Einflüssen? Ist es umgekehrt Französisch mit Einflüssen aus dem Cree? Ist es vielleicht doch eine besondere Form von Mischsprache, eine verflochtene Sprache?

Die wahren Umstände der Entstehung des Michif sind noch zu wenig erforscht. Doch laut Bekker sind vermutlich folgende Faktoren für die Entstehung und die besondere Struktur des Michif verantwortlich:

Zum einen der Umstand, dass die Métis als ethnische Gruppe selbst unter besonderen Umständen entstanden sind. Die Erschaffung und die Betonung einer eigenen und unabhängigen kulturellen, aber auch sprachlichen Identität hat in der Geschichte der Métis eine große Rolle gespielt. Es ist also anzunehmen, dass die ersten Sprecher·innen des Michif ihre „doppelte“ Identität, auch in einer „doppelten“ Sprache ausdrücken wollten. Diese Eigenschaft teilt Michif mit anderen bekannten Mischsprachen, die unter ähnlichen Umständen entstanden sind. Strukturell gesehen hebt sich Michif von diesen Sprachen allerdings ab.

Es ist also auch anzunehmen, dass die erste Generation, die Michif gesprochen hat, wirklich zweisprachig in Cree und Französisch war. Hätten die einen nur Cree und die anderen nur Französisch gesprochen, wäre eine so komplizierte und so komplexe Sprachstruktur, wie es beim Michif der Fall ist, vermutlich nicht möglich gewesen. Und sie wäre mit Sicherheit nicht die Sprache geworden, die wir heute so wundersam unklassifizierbar und wundervoll komplex finden.

Und genau das ist der Grund, warum es das Michif von all den Sprachen, die ich  dafür hätte auswählen können, heute in diesen Beitrag geschafft hat.

Fazit

Die Nachfahren französischer Pelzhändler und indigener Cree-Frauen haben als Ausdruck ihrer ethnischen Besonderheit eine Sprache entwickelt, die sich zu gleichen Teilen aus beiden Elternsprachen zusammensetzt. Diese Sprache nannten sie, auch um ihre gemischtsprachige, aber auch gemischtethnische Identität noch stärker zu betonen, Michif. Das Michif ist eine “echte” Mischsprache, wenn auch eine von besonderer Art, die nicht, wie andere Kontaktsprachen, einfach den Wortschatz einer Sprache mit einer etwas vereinfachten Grammatik einer anderen Sprache kombiniert. Nicht nur der Wortschatz an sich, sondern auch die komplette Grammatik des Michif übernimmt sowohl Elemente aus dem Französischen als auch Elemente aus dem Cree.

Dabei beschränken sich die Anleihen an die französische Sprache auf die Nominalgruppe mit Nomen, Artikeln und teilweise auch Adjektiven, und jene an das Cree auf die Verbalgruppe mit all seiner morphologischen Komplexität. Diese auf den ersten Blick sehr strikte Trennung der beiden Grammatiksysteme wird auf phonologischer Ebene noch unterstrichen. Dennoch gibt es einige syntaktische Phänomene, bei denen sich die grammatischen Strukturen der beiden Ausgangssprachen vermischen.

Diese außergewöhnliche sprachliche Verflechtung hebt das Michif von anderen bekannten Mischsprachen ab.

Heute setzen die Métis verstärkt auf die Revitalisierung ihrer Sprache. Obwohl die Herstellung und Finanzierung diverser Sprachlernprogramme viele Sprachkaktivist·innen vor große Herausforderungen stellt, wurden in den letzten Jahren vermehrt Programme ins Leben gerufen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, niederschwellige Lernangebote für interessierte Métis anzubieten, die aufgrund der Assimilisierungspolitik von Kanada und den USA heute zum Großteil nur noch Englisch sprechen. Unter den Voraussetzungen der vergangenen beiden Jahre wurde vor allem das Angebot an Onlineressoucen ausgebaut. Viele junge Métis zeigen heute wieder mehr Interesse daran, die Sprache ihre Vorfahr·innen zu lernen und vor allem auch an ihre Kinder weiterzugeben.

Und wer weiß, vielleicht ist das Michif ja noch gar nicht verloren? La laang di Michif ta-pashipiikan. Die Sprache des Michif wird überleben.

Weiterlesen

  • Bakker, Peter (1997) A Language of Our Own: The Genesis of Michif, the Mixed Cree-French Language. NY: Oxford University Press.
  • Brown, Jennifer S. H. (2019) Michif, in : The Canadian Encyclopedia.
  • Mielke, Rita (2020) Atlas der verlorenen Sprachen. Berlin: Duden.

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