Es ist Juli. Es ist heiß. Ich klebe. Und das nicht nur, weil meine Kinder Marmeladenhandabdrücke auf mir hinterlassen. Trotzdem stehen die Kinder heute wieder einmal im Mittelpunkt dieser Folge. Wir beschäftigen uns diese Woche wieder einmal mit den kindlichen Spracherwerb.

Wir haben uns in den beiden ersten Folgen in dieser Reihe schon ausführlich mit den Lauten beschäftigt. Zuerst mit der rezeptiven Seite. Da ist es darum gegangen, wie Säuglinge ab und bereits vor der Geburt Lautsprache verarbeiten. Und dann mit der produktiven Seite. Da haben wir uns angeschaut, wie Kinder lernen, mit ihrem Stimmapparat auch selbst Laute zu produzieren und sie allmählich zu ihren ersten eigenen Wörtern zusammensetzen.

In der heutigen Folge wird es genau um diese ersten eigenen Wörter gehen. Wir widmen uns heute dem Erwerb sogenannter lexikalischer und semantischer Fähigkeiten. Das heißt wir beschäftigen uns damit, wie Kinder ihren Wortschatz aufbauen, vor allem anfangs, in den ersten Lebensjahren, und wie Kinder diese Wörter mit Bedeutung verknüpfen.

.


Und wie immer, wenn es um den Spracherwerb geht, ganz wichtig:

Der Spracherwerb ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Die groben Entwicklungssequenzen werden zwar von den meisten Kindern durchlaufen, aber individuell. Jedes Kind hat ein eigenes Tempo und es kommen durchaus auch immer wieder Verläufe vor, die von den statistisch ermittelten Verlaufskurven abweichen, ohne dabei notwendigerweise auffällig zu sein. Das heißt: Der Überblick, den ich heute geben möchte, darf bitte nicht zu Diagnose von Entwicklungsverzögerungen oder -störungen herangezogen werden. Vor allem werden wir heute sehen, dass bestimmte Entwicklungen weniger mit dem Alter zu tun haben und mehr damit, welche Entwicklungen ein Kind bereits durchlaufen hat. Die Altersangaben heute sind also noch stärker als die letzten Male nur als Richtwerte zu verstehen.

Also bitte: Falls ihr ein Kind habt oder kennt, bei dem ihr euch Sorgen macht, bitte lasst es von einer medizinischen oder logopädischen Fachkraft abklären. Denn es schadet nie, die Sprache unserer Kinder im Auge zu behalten und in ihre sprachliche Entwicklung zu investieren.

Und damit kommen wir zurück zum heutigen Thema.

Das mentale Lexikon

Wenn Kinder neue oder ihre ersten Wörter lernen, müssen sie diese irgendwo abspeichern. Und wo speichert man Wörter besser als in einem Lexikon. Auch unser menschliches Gehirn hat ein solches mentales Lexikon.

Das mentale Lexikon ist ein Teil unseres Langzeitgedächtnisses. Man kann sich dieses Lexikon wie ein Speichersystem im Gehirn vorstellen. Es ist einerseits aktiv, das heißt es ist auch veränderlich, und zwar lebenslang. Wir können also unser ganzes Leben lang neue Wörter abspeichern und bereits abgespeichert Wörter umspeichern, neu organisieren. Das heißt, dieses Speichersystem ist nicht nur Ablageplatz für Wörter, wo die dann einfach herumliegen und der irgendwann voll ist, wie ein USB-Stick, sondern es ist irrsinnig flexibel.

Und zweitens ist das mentale Lexikon organisiert, also in einer bestimmten Form strukturiert. Die mentalen Prozesse, die bei dieser Organisation beteiligt sind, werden wir heute nicht besprechen. Das würde zu sehr ins Detail gehen.

Was wir aber im Kopf behalten sollten — und beim Wörterlernen eben auch immer im Kopf haben müssen — sind eine ganze Reihe an Informationen, die gemeinsam mit einem lexikalischen Eintrag, mit einem Wort, in diesem Lexikon abgespeichert sind.

Wenn wir das Ganze ein bisschen vereinfachen wollen, dann stellen wir uns einfach ein stinknormales Wörterbuch vor. Ein herkömmliches Wörterbuch, so eines zum Angreifen, mit physischen Seiten, Buchdeckel und so weiter. Das schlagen wir an einer beliebigen Stelle auf und finden dort, sagen wir auf der linken Seite in der Mitte irgendwo, einen fett gedrucken Begriff. Sagen wir: Meise. Jetzt steht aber nicht nur das Wort Meise da. In den allermeisten Fällen steht da natürlich eine Definition, ein Bedeutung quasi. Es steht dort aber auch der Artikel, also die. Oder feminin. Und meist steht dort auch die Pluralform oder der Genitiv, je nachdem, um welches Wörterbuch es sich handelt. In jeden Fall steht da immer irgendetwas über die Grammatik von Meise.

Sehr oft werden auch Silben oder Wortakzent am Wort selber markiert. Manchmal steht daneben sogar in Lautschrift, wie man Meise auf Deutsch ausspricht. Zumindest in zweisprachigen Wörterbüchern wäre das der Fall. Dadurch, dass uns das Wörterbuch in gedruckter Form vorliegt, sehen wir natürlich auch an der Buchstabenfolge, wie das Wort Meise auf Deutsch geschrieben wird.

Und wenn wir das Wörterbuch statt beim Nomen Meise beim Verb zwitschern aufgeschlagen hätten, dann wäre dort beim Eintrag für zwitschern auch was darüber gestanden, wie dieses Verb in unterschiedlichen Zeiten abgewandelt wird, zwitscherte, hat gezwitschert zum Beispiel, es wäre also etwas über die morphologische Struktur von zwitschern dabeigestanden, oder etwas über die semantischen Rollen der Argumente, wenn wir zwitschern in einem Satz verwenden wollen. Da würden wir dann Informationen finden, wie: braucht ein Objekt im Dativ, braucht ein Objekt im Akkusativ, braucht ein Objekt im Akkusativ und eines im Dativ. Solche Dinge.

Der Lexikoneintrag, also egal ob von Meise oder von zwitschern, ist also weit mehr als nur das Wort Meise oder das Wort zwitschern. Da steht ein ganzer Absatz, manchmal ganze Spalten lang, an Informationen, die offensichtlich für dieses Wort relevant sind. Und das ist eben sowohl im Wörterbuch so als auch im menschlichen Gehirn.

Und wie ein Kind das nun macht, die Art und Weise, wie es Schritt für Schritt zu diesem umfangreichen Lexikoneintrag kommt, genau das wollen wir uns heute anschauen. Wir werden uns anschauen, wie Kinder dieses Lexikon mit Wörtern füllen und wir werden uns anschauen, wie sie diesen Wörtern Bedeutung zuschreiben. Dieses äußerst komplexe und willkürliche System zu durchschauen, ist ein sehr vielschichtiger Prozess. Und trotzdemgelingt es Kindern, und gelingt es ihnen zeitweise sogar mit erstaunlicher Geschwindigkeit.

Wortverständnis/-produktion

Kinder beginnen am Ende des ersten Lebensjahres damit, Wörter nicht mehr nur an ihrer Form wiederzukennen, sondern sie auch mit Bedeutung zu verknüpfen. Und die Anzahl der Wörter, die ein Kind versteht, vergrößert sich rasch. Mit 8 Monaten verstehen Kinder im Schnitt 36 Wörter. Mit 16 Monaten sind es bereits 190. Ein sechsjähriges Kind versteht dann schon zwischen 9.000 und 14.000 Wörtern.

Das schnelle Wörterlernen wird auf das sogenannte fast mapping zurückgeführt. Fast mapping, also das schnelle Zuordnen, bedeutet, dass Kinder, wenn sie ein neues Wort hören, sofort nach einer möglichen Bedeutung suchen, sich dann erst mal schnell einen ersten vorläufigen, und noch unvollständigen Eintrag im mentalen Lexikon legen, und diesen Eintrag dann erst mit der Zeit ausdifferenzieren, mit zusätzlichen Informationen ergänzen.

Ungefähr zur selben Zeit, also um den ersten Geburtstag herum, können Kinder auch ihre ersten eigenen Wörter sprechen. Manchmal sind die Wörter dann noch stark an einen konkreten Situationskontext gebunden. Also das Kind sagt zum Beispiel das Wort Ente, aber nur dann, wenn es gerade in der Badewanne sitzt und eine Badeente über den Badewannenrand wirft. Alle anderen Enten, die es sieht, egal ob aus Plastik oder nicht, sind keine Enten — noch keine Enten.

Erst wenn die Wörter losgelöst von einem unmittelbaren Kommunikationskontext verwendet werden, wenn sie auch phonetisch konsistent sind, das heißt wenn sie immer mehr oder weniger gleich ausgesprochen werden, und wenn sie semantisch kohärent sind, das heißt wenn sie immer mit den gleichen Objekten, Personen, Tätigkeiten verbunden sind, erst dann spricht man von ersten “echten” Wörtern. Diese “echten” Wörter können aber — vor allem in einem sehr frühen Stadium des Wortschatzerwerbs — in unterschiedlichen Formen auftreten.

Viele Erwachsene, die Kinder beim Worterwerb beobachten, stellen sich an irgendeinem Punkt die Frage: Hm, war das jetzt gerade ein Wort oder nicht?

Als Wörter zählen nämlich nicht nur Wörter, so wie wir uns Wörter aus unserer Erwachsenensprache vorstellen. Als erste Wörter zählen auch: Tierlaute (kikeriki, muh, miau), vereinfachte Wörter (wauwau für Hund, toto für Auto) oder Ausrufe (hui beim Rutschen, oho, wenn etwas kaputtgeht). Aber auch Kindergebärden, also Gebärden, meist ausschließlich Handgesten, die an die Gebärden einer Gebärdensprache angepasst worden sind oder sogar direkt aus einer Gebärdensprache übernommen worden sind, je nach Komplexität der Gebärde. Und die dann meist zusätzlich zu den lautsprachlichen Wörtern in die Kommunikation mit dem Kind eingeführt werden.

Kindergebärden oder Baby Sign sind — aus meiner Erfahrung — ein sehr effektiver und bereichernder Weg, die Kommunikation innerhalb der Familie zu verbessern. Denn meist ist es so, dass Kinder Gebärden bereits vor den ersten lautsprachlichen Wörtern verwenden können.

Wir haben mit beiden Kindern anfangs gebärdet. Alltägliche Gegenstände oder Bedürfnisse haben wir parallel zum Lautwort mit der Gebärde bezeichnet. Das Wort Milch haben wir mit einer melkenden Hand gebärdet. Da wird mit einer Hand eine Faust gebildet, die sich immer wieder öffnet und schließt, wie beim traditionellen Melken eben. Oder die Gebärde für mehr, also mehr essen, mehr trinken, mehr spielen, mehr irgendwas, waren bei uns zwei Schnapphände, als würde man zwei Krokodile mit geschlossenem Mund nachmachen, die sich mehrmals an den Fingerspitzen, an den Mäulern quasi, berühren. Das waren und sind alles Gebärden, die ein Kind bereits sehr früh nachmachen kann, und mit denen man dann auch sehr früh schon mit dem Kind über Wünsche, Bedürfnisse und Befindlichkeiten kommunizieren kann.

Die Gebärden nehmen anfangs natürlich einen Teil des Wortschatzumfangs ein, weil sie eben oft noch anstelle von lautsprachlichen Wörtern verwendet werden. Das heißt es sieht kurzfristig so aus, als würde das Kind weniger sprechen als gleichaltrige Kinder. Es spricht allerdings nur lautsprachlich weniger, aber dafür gebärdet es.

Es spricht quasi mit den Händen.

Und: Bei einem ungestörten Spracherwerbsverlauf hat das frühe Gebärden keinerlei negative Einflüsse auf den lautsprachlichen Erwerb eines Kindes. Im Gegenteil, wir hatten bei beiden Kindern das Gefühl, dass das Gebärden einen positiven Effekt auf ihre Sprachbewusstheit gehabt hat und auf ihre allgemeine Motivation zu sprechen. Ich verlinke euch gerne Informationen und Materialien zu Babygebärden, die uns damals sehr geholfen haben, am Ende der Seite.

Nach der Frage, was eigentlich ein Wort ist im kindlichen Spracherwerb, stellt sich gleich auch eine andere wichtige Frage, nämlich: Welche sind die Wörter, die ein Kind am Beginn des Wörterlernen verwendet? Wie bauen Kinder ihren Wortschatz auf?

Wortschatzerwerb

Grundsätzlich spiegelt das frühe Lexikon natürlich die konkrete Erfahrungswelt der Kinder wider. Das heißt ein Kind wird vermutlich ein Wort wie Tisch oder Sessel früher lernen als Steuererklärung. Nicht nur weil die Wörter Tisch und Sessel einfacher sind als Steuererklärung, sondern vor allem auch, weil die Steuererklärung für kleine Kinder — hoffentlich — noch nicht wichtig ist, keine Relevanz hat.

Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass Kinder in der frühen Phase des Wortschatzaufbaus nur “einfache” Wörter lernen würden. Studien für das Deutsche belegen, dass Kinder auch schon vor dem zweiten Geburtstag ohne Weiteres Wortbildungen wie zum Beispiel zusammengesetzte Wörter, sogenannte Komposita, bilden können (Schicke/Kauschke 2010).

Der Wortschatz eines Kindes wächst zuerst einmal in die “Breite”, wie man so schön sagt. Das heißt im Mittelpunktsteht erst einmal das Lernen möglichst vieler unterschiedlicher Wörter, um möglichst viel in der kindlichen Alltagswelt benennen und beschreiben zu können.

Wenn man diese Entwicklung entlang der Entwicklung der Wortarten beschreiben möchte, ergeben sich drei wichtige Erwerbsphasen. Diese Phasen sind zwar grob gewissen Altersangaben zugeordnet, wichtiger für die Ausbau der Wortarten ist aber die Wortschatzgröße. Das heißt die Altersangaben bei dieser Beschreibung sind nur als ungefähre Richtwerte zu sehen.

In einer ersten Phase zwischen ein und eineinhalb Jahren treten in der kindlichen Sprache größtenteils noch sogenannte interaktive oder relationale Wörter auf. Damit sind Wörter gemeint, die einerseits für die sprachliche Interaktion mit andren wichtig sind, wie etwa ein Hallo beim Begrüßen oder die Wörter ja und nein, um eigene Wünsche oder Bedürfnisse auszudrücken. Das wären dann interaktive Wörter. Relationale Wörter auf der anderen Seite sind zum Beispiel Dinge wie da oder auf, mit denen sich die Kinder zu Objekten oder anderen Personen in Beziehung setzen können bzw. mit denen sie diese Objekte und Personen miteinander in Beziehung setzen können. Außerdem tauchen in dieser frühen Phase auch Lautmalereien wie brum brum oder Eigennamen wie Mama oder Papa auf. In dieser ersten Phase enthält der kindliche Wortschatz zirka 50 Wörter.

In einer zweiten Phase zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahren wächst der kindliche Wortschatz auf etwa 100 bis 300 Wörter an. Dabei gehen die frühen Wortkategorien, die ich gerade erwähnt habe, etwas zurück, während vor allem Nomen hier stark zunehmen.

Außerdem beginnt in dieser Phase auch bereits der Erwerb von Verben, der dann aber erst in der dritten Phase, mit zweieinhalb bis drei Jahren, wenn das Kind in etwa 400 Wörter sprechen kann, so richtig Fahrt aufnimmt. In dieser Phase werden auch Funktionswörter immer häufiger und der kindliche Wortschatz differenziert sich allgemein weiter aus. Darauf werden wir gleich noch einmal zu sprechen kommen.

In der Literatur, und auch im Alltag, wird immer wieder beobachtet, dass Kinder nach einer ersten relativ langsamen Wachstumsphase im Wortschatz plötzlich mit irrsinniger Geschwindigkeit neue Wörter dazulernen. Aufgrund dieser Geschwindigkeit wird diese Phase oft mit dem Begriff “Vokabelspurt” bezeichnet. Allerdings ist dieses abrupte Vokabelwachstum nicht bei allen Kindern zu beobachten, und auch der Zeitpunkt dieses Spurts ist nicht bei jedem Kind gleich. Manche Kinder durchlaufen diese Phase früher, manche später, mit einem durchschnittlichen Alter von 19-20 Monaten. Manche machen wirklich einen großen Sprung, andere mehrere kleine Sprünge hintereinander, andere wiederum bleiben mehr oder weniger die ganze Zeit bei einem graduellen, linearenWachstum. Da die Datenlage hier bislang keine eindeutigen Ergebnisse liefert, gehen manche Forscher·innen davon aus, dass Kinder während ihrer Wortschatzentwicklung mehrere Phasen durchlaufen, von denen eben manche sprunghaftverlaufen und andere eher graduell (Goldfield/Reznick 1996).

Wenn es um Wörter für Objekte geht, bleiben Kinder am Anfang überwiegend noch bei sogenannten Basisbegriffen. Begriffe also, die sich auf einer Abstraktheitsskala auf der Basiseben quasi ansiedeln. Begriffe, die weder zu abstrakt, zu allgemein sind, noch zu konkret, zu spezifisch. Ein Beispiel: Meist kennen Kinder das Wort Hund vor dem abstrakteren Begriff Tier und vor dem spezifischeren Begriff Dackel.

Hier gibt es natürlich wie immer auch Ausnahmen. Kinder lernen nicht zuerst alle Basisbegriffe und dann erst die über- oder untergeordneten. Bei der Mimi war das zum Beispiel bei den Vögeln so. Sie hatte damals eine sehr intensive Vogelphase. Sie hat praktisch alle heimischen Vogelarten beim Namen gekannt und im Park auch wiedererkannt. Aber das lag daran, dass sie einfach ein irrsinniges Interesse an diesen Tieren hatte. Das heißt Kinder sind sehr wohl in der Lage, parallel zu Basisbegriffen auch unter- und übergeordnete Begriffe zu lernen.

Der Wortschatz, der anfangs eben noch sehr breit ist, um möglichst viel von der kindlichen Lebenswelt abzudecken, wächst dann in einem weiteren Entwicklungsschritt immer mehr in die Tiefe. Mit drei bis vier Jahren kennen die Kinder dann vereinzelt auch schon die entsprechenden über- und untergeordneten Begriffe. Also zum Beispiel das Tier und den Dackel, wenn wir das Beispiel mit dem Hund noch einmal hernehmen. Im Laufe des Vorschul- und Schulalters differenziert sich der Wortschatz dann noch einmal weiter aus.

Wir haben bis jetzt sehr viel über Nomen gesprochen. Das ist für den Spracherwerb in Deutsch nicht untypisch. Deutschsprachig aufwachsende Kinder lernen anfangs sehr rasch sehr viele Nomen dazu. Erst im weiteren Verlauf nimmt dann der Anteil der Nomen am Gesamtwortschatz der Kinder wieder etwas ab. Am Ende des dritte Lebensjahres in etwa entspricht dann der Anteil der jeweiligen Wortarten, also neben Nomen auch Verben, Adjektive, Pronomen und so weiter, dem Anteil in der Erwachsenensprache.

Dass dieser Fokus auf den Nomen allerdings nicht universell ist, zeigen sprachvergleichende Studien. Vor allem für asiatischen Sprachen — und hier besonders im Chinesischen, Koreanischen und Japanischen — stimmt das mit den vielen führen Nomen nicht ganz. Weder verwenden Kinder in diesem Sprachen Nomen häufiger als andere Wortarten, noch lernen sie Nomen tendenziell vor Verben, so wie das zum Beispiel bei deutschsprachigen Kindern der Fall ist. Das heißt, dass das das Auftreten bestimmter Wortarten und auch der Anteil der einzelnen Wortarten am Gesamtwortschatz von Sprache zu Sprache unterschiedlich ist.

Beim Lernen neuer Wörter, bilden Kinder nun, egal in welcher Sprache, eine Art gegliedertes Netzwerk. Das heißt Kinder erweitern ihren Wortschatz, indem sie zusätzliche Wörter rund um ein bereits bekanntes Wort aufnehmen, wie bei einer Art Wortwolke, wo die Wörter innerhalb dieser Wolke alle irgendwie miteinander in Beziehung stehen.

Dieser Netzwerkaufbau passiert nicht nur durch das Herstellen hierarchischer Ebenen, wie bei Tier—Hund—Dackel, sondern auch durch das Gruppieren von Wörtern, die die gleiche oder zumindest eine ähnliche Bedeutung haben, sogenannte Synonyme, wie zum Beispiel Karotte und Möhre. Das passiert auch durch das Gruppieren von Gegenteilen oder Oppositionen. Da zählen zum Beispiel Antonyme dazu, wie heißt—kalt, oder Wörter, deren Bedeutung einander ausschließen, wie tot—lebendig. Auch durch sogenannte Teil-Ganzes-Beziehungen kann ein Kind Ordnung schaffen in seinem oder ihrem Lexikon. Und zwar indem es Wörter, die für ein ganzes Objekt, gemeinsam mit Wörtern abspeichert, die für Teile dieses Objekts stehen. Zum Beispiel: Pullover—Ärmel.

Vor allem mit wachsendem Wortschatz wird es zunehmend wichtiger, die Lexikoneinträge irgendwie zu strukturieren, damit Kinder auch effektiv auf Wörter zugreifen können. Das heißt diese Gliederungen, die das Kind vornimmt, helfen ihm oder ihr, in einer Gesprächssituation schnell das passende Wort zu finden.

Die letzte Frage, die wir heute beantworten wollen, lautet also: Wie weiß das Kind, was diese Wörter eigentlich bedeuten?

Denn Kinder treffen beim Wörterlernen nicht immer ins Schwarze. Besonders schön sieht man das daran, dass sie dazu neigen, anfangs die Bedeutung, die wir als Erwachsene einem Wort zuschreiben, entweder verengen oder übergeneralisieren. Also manchmal ist ein Hund nur ein Tier das vier Beine hat, ein Fell, das klein ist und schwarz. Große braune Hunde wären nach dieser Logik keine Hunde. Passiert bei Kindern ständig. Das wäre dann eine Verengung. Der umgekehrte Fall wäre, wenn ein Kind plötzlich alle Tiere als Hunde bezeichnen würde. Das heißt es geht davon aus, dass ein Hund immer ein Tier ist, vier Beine hat und ein Fell, und fertig. Demnach wäre dann aber auch ein Bär ein Hund, oder eine Katze ein Hund. Das wäre dann eben eine Übergeneralisierung. Beides kommt in der ersten Wortschatzphase sehr häufig vor.

Bedeutungsentwicklung

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich mit euch ein kleines Gedankenexperiment machen.

Und zwar ist das ein Gedankenexperiment aus den 1960ern, das versucht, die Sache mit der Bedeutungsfindung anschaulich zu erklären. Das Gedankenexperiment stammt vom amerikanischen Sprachphilosophen Willard Quine und geht zirka so:

Eine Sprachforscherin — ich gendere jetzt einfach einmal umgekehrt — hat die Aufgabe, eine bislang unbekannte Sprache zu übersetzen. Sie reist also in dieses ferne Gebiet und an ihrem ersten Tag, sie sitzt gerade mit ein paar Einheimischen in der Sonne, huscht da ein Kaninchen vorbei. Und während sie dem Kaninchen nachschaut, sagt ein Mann neben ihr: gavagai. Die Forscherin notiert sich das gehörte Wort und schreibt daneben: “sieh da — ein Kaninchen”. Sie hat sich also gleich auch eine vorsichtige Übersetzung notiert, quasi eine Arbeitshypothese.

Bei Quine geht die Überlegung dann folgendermaßen weiter:

Für ihn ist es für die Forscherin prinzipiell unmöglich, auf die “wirkliche” Bedeutung von gavagai zu kommen. Ohne zusätzliche Informationen kann sie seiner Meinung nach eigentlich nicht auf die Bedeutung “Kaninchen” kommen. Was ist, wenn der Mann neben ihr nicht das Kaninchen gemeint hat, sondern das Hoppeln. Oder nicht das ganze Kaninchen, sondern nur die langen Ohren. Oder nicht einen Teil des Kaninchens, sondern die Farbe von seinem Fell? Wir könnten diese Fragerunde jetzt vermutlich ewig weiterführen.

Soweit das hypothetische Szenario. Wie hat jetzt die Spracherwerbsforschung auf dieses “Gavagai”-Beispiel reagiert?

Überträgt man die Situation, in der sich die Sprachforscherin bei Quine befindet, auf eine Situation, in der ein Kind zum ersten Mal Wörter hört, und dabei genauso wenig weiß, was das Wort bedeutet wie die Forscherin, dann stellt sich natürlich die Frage: Wie stellt das Kind eine Verbindung zwischen Wort und Bedeutung her?

Die einen haben gesagt: Super, das ist genau das, wie wir uns den Lexikonerwerb vorstellen. Ohne Vorkenntnisse kommt ein Kind in dieser ersten Phase des Wortschatzaufbaus nie auch nur auf irgendeine Bedeutung. Um zu erklären, wieso und wie Kinder dann trotzdem Wörter lernen, und ihre Bedeutungen, geht man davon aus, dass Kinder über bestimmte Lernstrategien verfügen, mit denen sie die Hypothesen, die sie beim erstmaligen Hören eines Wortes über dessen Bedeutung aufstellen müssten, einschränken können (Kaninchen, Ohren, hoppeln, grau usw.). Kurz gesagt: Kinder würden aufgrund dieser Strategien erst gar nicht alle logisch möglichen Hypothesen aufstellen, sondern würden von vornherein bestimmte Hypothesen priorisieren. Zum Beispiel würden sie davon ausgehen dass sich ein neues Wort immer auf das ganze Objekt bezieht und nicht nur auf einen Teil, eine Farbe, oder eine andere Eigenschaft des Objekts. Oder sie gehen davon aus, dass wenn sie ein neues Worthören, dieses Wort auch einen neuen Gegenstand bezeichnet, und nicht ein Synonym für ein bereits bekanntes Wort ist. Ein Problem mit diesem Erklärungsansatz besteht darin, dass sich diese Erwerbsbeschränkungen zwar sehr gut an Nomen zeigen lassen, nicht aber bei anderen Wortarten.

Andere Erklärungsansätze sind deshalb eher pragmatisch orientiert. Diese Ansätze stellen den Vergleich zwischen dem Gedankenexperiment mit dem Kaninchen und dem kindlichen Wortschatzserwerb grundsätzlich in Frage. Im Gegensatz zur Sprachforscherin, die mehr oder weniger auf ihre eigene Intuition angewiesen ist, würden Kindern schließlich zahlreiche sprachliche und soziale Hinweise in der Umgebung zur Verfügung stehen, um zu einer Wortbedeutung zu kommen. Wörter würden nicht allein in Raum stehen, sondern immer in einen Kontext eingebettet sein. Bedeutung würde demnach durch den Gebrauch von Wörtern entstehen. Der Erwerb von Wörtern und Wortbedeutung sei also in erster Linie ein kommunikativer und kultureller, und würde sich nicht allein im Kopf der Sprecher·innen abspielen. Kinder würden die Bedeutung von neuen Wörtern in ganz konkreten Situationen lernen und indem sie ganz genau beobachten, wie sich ihre Kommunikationspartner·innen sprachlich aber auch nicht sprachlich verhalten.

In Studien, die sich genau damit beschäftigen, wie sich Erwachsene verhalten, wenn sie einem Kind ein neues Wortbeibringen wollen, konnte man mehrere Strategien identifizieren: Erstens stellen Eltern häufig neue Wörter an das Ende von Sätzen, sie wiederholen diese Wörter häufig und betonen sie stärker als andere. Außerdem stellen sie Verbindungen zu bereits bekannten Wörtern her (Das Auto ist klein, das Auto ist groß.). Oder sie nennen Oberbegriffe um dem Kind das Verständnis zu erleichtern — wie Eine Meise ist eine Art von Vogel. (Clark 2010; Kauschke/Klann-Delius 2010) Da Kinder aber vermutlich erst mit etwa 18 Monaten in der Lage sind, solche sozialen Hinweise zu interpretieren, können diese Ansätze allerdings sehr frühe Phasen des Wortlernens nicht erklären.

Neuere Ansätze, die wir in Folge zu den Spracherwerbstheorien bereits als Emergenzmodelle kennengelernt haben, halten es daher für wahrscheinlich, dass sich Kinder im Verlauf des Wortschatzerwerbs, je nach Entwicklungsstand, auf unterschiedliche Hinweisreize verlassen, um auf die Bedeutung eines Wortes zu kommen. Am Anfang würden sie neue Wörter, die sie hören, vorrangig auf die Objekte beziehen, für die sie sich am meisten interessieren. Später würden sie dann auch auf die Blickrichtung oder auf Gesten der Sprecher·innen achten. Und erst zum Schluss würden sie auch sprachliche Hinweise verarbeiten. Zum Beispiel das Wissen, dass nach einem Artikel höchstwahrscheinlich ein Nomen folgt. Nach und nach würde Kindern die “Suche” nach der korrekten Bedeutung einfacher fallen, weil sie lernen, diese verschiedenen Hinweisreize zu kombinieren.

Fazit

Was können wir von heute mitnehmen: Nachdem Kinder gelernt haben, Sprachlaute zu bilden und diese zu Lautketten zusammenzuziehen, folgen rund um den ersten Geburtstag schließlich die ersten richtigen Wörter. Vorsichtig verallgemeinert sprechen Kinder mit ungestörtem Spracherwerb mit eineinhalb Jahren in etwa 50 und mit zwei Jahren zirka 200 Wörter. Der Wortschatzerwerb im Deutschen verläuft in mehreren Phasen. Zunächst benutzt ein Kind in erster Linie interaktionale und relationale Wörter, Lautmalereien und Eigennamen. In einer zweiten Phase tauchen verstärkt Nomen auf. Schließlich nimmt das Kind auch immer mehr Verben, gefolgt von Funktionswörtern in seinen oder ihren aktiven Wortschatz auf. Auch wenn bei vielen Kindern in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ein sogenannter Vokabelspurt beobachtet werden kann, steigt der Wortschatzumfang nicht bei allen so abrupt an. Die Frage danach, wie Kinder die Bedeutung ihrer ersten Wörter lernen, ist wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Neben Erklärungsansätzen, die von bestimmten Lernstrategien beim Kind ausgehen und Ansätzen, die den sozialen und sprachlichen Kontext beim Wörterlernen betonen, nehmen Vertreter·innen neuerer Erklärungsansätze an, dass sich der Bedeutungserwerb mit der allgemeinen sprachlichen Entwicklung der Kinder mitentwickelt.

Weiterlesen

Kindergebärden