Das Erfinden neuer Wörter macht irrsinnigen Spaß – und das sollte es auch. Doch durch das Beharren auf „deutsche“ Wörter kann man auch leicht über das Ziel hinausschießen. Die deutsche Sprachgeschichte ist auch eine Geschichte vom Verdeutschen der deutschen Sprache. Dabei ist fremdsprachiges Wortgut im Deutschen weder neu noch ein Zeichen für sprachlichen Verfall.

Das Erfinden neuer Wörter

Abgeschafft oder nicht. Die Pandemie ist gekommen, um zu bleiben.  Zumindest im sprachlichen Sinne. Laut dem Leibniz-Institut für deutsche Sprache bescherte uns Corona bereits mehr als tausend neue Begriffe. Booster, Lockdown, Homeoffice und Co. setzen aber nicht nur Querdenkerinnen zu. Auch der Verein Deutsche Sprache stellt sich bei dieser “Welle” an Anglizismen quer.

Der Verein hat sich bereits präpandemisch der Verteidigung des deutschen Sprachguts  verschrieben. Eine eigene Arbeitsgruppe durchforstet unermüdlich das Netz und stellt die neuesten englischen Versatzstücke in der deutschen Sprache an den Pranger. Gibt es keine deutschen Entsprechungen, werden diese schlichtweg erfunden.

Aber nicht nur Corona geht Sprachpuristinnen auf den sprichwörtlichen germanistischen Zeiger. Der Index listet auch Begriffe wie Säugling statt Baby, Kapelle statt Band, Schmalzgebäckkringel statt Donut und — mein All-time-Favourit: Spätstück statt Brunch.

Das Erfinden neuer Wörter macht irrsinnigen Spaß. Und das sollte es auch. Schließlich lebt eine Sprache vom Einfallsreichtum ihrer Sprecher*innen. Dass man durch das Pochen auf “deutsche” Begriffe aber auch über das Ziel hinausschießen kann, beweisen folgende Beispiele:

  1. Statt Down-Syndrom schlägt der Verein deutsche Sprache Trisomie 21 vor. Was medizinisch gesehen keinen Unterschied macht, ist sprachlich aber nur schwer nachzuvollziehen. Und zwar aus zwei Gründen.  Zum einen bezieht sich die Bezeichnung der Krankheit nicht auf ein englisches Wort, sondern auf den Namen jenes Neurologen, der die sie als erster wissenschaftlich von anderen Erkrankungen abgrenzte: John Langdon Down. Zum anderen handelt es sich auch bei der Bezeichnung Trisomie nicht um ein deutsches Wort. Sowohl τρία tría für drei, als auch σῶμα sôma für Körper stammen aus dem Altgriechischen.
  2. Ähnlich verhält es sich mit dem Bachelor, der fortan Bakkalaureus genannt werden soll. Nicht nur der eine, sondern auchder andere leiten sich vom mittellateinischen Wort für ein herrschaftliches Landgut ab. Der Vorteil der Umtaufung erschließt sich mir also nicht wirklich. Doch diese Doppelmoral ist in sprachpuristischen Kreisen nicht unüblich. Während ein unerbittlicher Kampf gegen englische Fremdwörter geführt wird, bleibt anders als englischsprachiges Wortgut im Deutschen meist verschont.

Mit ihrem Wunsch nach einer “reinen” deutschen Sprache ist der Verein Deutsche Sprache allerdings nicht allein.

Berühmte Verdeutscher

Einer der wohl berühmtesten deutschen Sprachbewahrer war Philipp von Zesen. Dem 1619 geborenen Pfarrerssohn verdanken wir den Augenblick, den Abstand, den Kreislauf, die Rechtschreibung und das Tagebuch. Ihm ging es nicht nur darum, Wortschatzlücken zu füllen, sondern auch bereits gut etablierte Fremdwörter zu verbannen. Das Fenster wird bei ihm zum Tageleuchter, das Kloster zum  Jungfernzwinger und die Natur zur Zeugemutter. Nicht nötig, zu erklären, warum sich diese Wörter schlussendlich nicht durchgesetzt haben. Selbst in der «Fruchtbringenden Gesellschaft» — einer Gruppe von Fürsten und protestantischen Adligen, die sich dem Schutz der hochdeutschen Sprache vor ausländischen Wörtern verschrieben hatte — hält man Zesens “Wortschmiederey” für übertrieben.

Ein Jahrhundert später versuchte sich ein anderer an einer umfassenden Verdeutschung von Fremdwörtern: Joachim Heinrich Campe. Der Reformpädagoge gilt als einer der erfolgreichsten Verdeutschen aller Zeiten. Sein Ziel war es, den Menschen zur Zeit der Aufklärung neue Begriffe zur Verfügung zu stellen, mit denen sie über die Ereignisse der französischen Revolution und die tiefgreifenden politischen Veränderungen der damalige Zeit sprechen konnten. Dadurch erhoffte er sich eine gerechtere Gesellschaft. Denn schließlich könne kein Volk seine Stimme erheben, wenn es ihm an der Sprache fehle. Aus diesem Grund ließ Campe auch die Finger von Fremdwörtern, die den Menschen bereits bekannt waren. Heute befinden sich immerhin 250 seiner 3.200 Neuschöpfungen im Duden. Doch seine Bemühungen waren lediglich gut gemeinte Irrlichter im Vergleich zu dem, was nach ihm kam.

Deutsch als nationales Symbol

Erst mit der deutschen Reichsgründung 1871 nimmt eine systematische Verdeutschung Fahrt auf. Deutsch wird zum tragenden Symbol der neu gefunden politischen Einheit. Die Sprache der deutschen Kulturnation sollte ihre “Deutschheit” nach innen und nach außen widerspiegeln. Unzählige Zweigvereine des neu gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachvereins drängen mit Wörterbüchern, Broschüren und medial wirksamen Preisausschreiben auf eine komplette “Säuberung” der deutschen Sprache. Nicht nur in der Verwaltung, der Justiz, bei der Eisenbahn und bei der Post, sondern auch im Wirtshaus und am Fußballplatz werden fremdsprachige Einflüsse nicht mehr geduldet.

Die Verteidigung der Muttersprache erreicht mit der Verteidigung des Vaterlands im ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Die Sprachen der politischen Feinde hatten im Deutschen nichts mehr zu suchen. Die militärische Niederlage befeuert die sprachpuristischen Bestrebungen nur noch weiter. Unter nationalsozialistischer Herrschaft sieht sich der Allgemeine Deutsche Sprachverein als “SA unserer Muttersprache” und “Sprachpflege als Rassenpflicht”. Diese Rechnung hatte der Verein jedoch ohne die damaligen Machthaber gemacht. Die Naziführung selbst stieß sich nicht an den vielen Fremdwörtern in der deutschen Sprache. Im Gegenteil: Der Gebrauch von Fremdwörtern ließ Verantwortliche weltgewandt wirken und konnte politische Ziele verschleiern. Vorschläge wie Zwangslager statt Konzentrationslager oder Unfruchtbarmachung statt Sterilisation hielt Propagandaminister Goebbels für Blödsinn. 1940 verbot Hitler selbst jede weitere “gewaltsame Eindeutschung”. (Quelle)

Heute übernimmt ein anderer Verein, der Verein Deutsche Sprache, die unrühmliche Aufgabe der Sprachreinigung.

Fremdes Deutsch?

Doch wo kämen wir denn hin, wenn die deutsche Sprache nur noch deutsch wäre? Kann eine Sprache überhaupt ohne Fremdwörter oder fremdes Sprachgut existieren? Linguistisch gesehen, nein. Eine Sprache, deren Sprecher*innen nicht in der Lage sind, sich an die politischen, gesellschaftlichen und technisch-technologischen Veränderungen der Welt anzupassen, wird irgendwann nicht mehr als Kommunikationsmittel taugen. Mit den Worten von Campe: Ihre Sprecher*innen werden irgendwann nicht mehr in der Lage sein, sprachlich mit dem Weltgeschehen mitzuhalten.

Doch auch Verdeutscher wie Campe oder von Zesen mussten einsehen: Sie konnten sich noch so viele neue Wörter ausdenken, wenn die Menschen nicht bereit waren, diese Wörter auch zu verwenden, gerieten sie in Vergessenheit. Sprachwandelprozesse lassen sich nicht von außen steuern. Mit neuen Dingen, Techniken oder Beziehungen übernehmen wir oft auch die Bezeichnungen aus anderen Sprachen. Früher waren es in erster Linien Griechisch und Latein, dann Französisch und heute eben Englisch. Der Umstand, dass es heute Anglizismen im Deutschen gibt, ist also keine Modeerscheinung, kein Sprachverfall. Es ist Sprachgeschichte, in der wir zufällig gerade drinstecken.

Zählt man die Fremdwörter in einem ganz normalen Zeitungsartikel, kommt man auf einen Anteil von rund 8%. Zieht man von dieser Zahl all jene Wörter ab, die nicht aus dem Englischen stammen und die wir heute nicht mehr als Fremdwörter wahrnehmen, halbiert sich diese Zahl noch einmal. Selbst in der Werbung, die ja meist nur so mit Anglizismen um sich wirft, sind im Schnitt nur 4% der Wörter englischen Ursprungs. Ist das tatsächlich mehr als es in früheren Epochen war? Ist es nicht. Die deutsche Sprachgemeinschaft ist sehr gut darin, “am Zahn der Zeit zu sprechen” Was vor hundertfünfzig Jahren noch en vogue war, sagt heute niemand mehr. Das Lavoire ist längst zum Waschbecken geworden und der Trottoir ist heute meist ein Bürger- oder Gehsteig. Das Kostüm, das Fest oder die Möbel haben wir allerdings behalten, und sie mit der Zeit an die deutsche Rechtschreibung und Aussprache angepasst, sodass sie uns meist gar nicht mehr fremd vorkommen.

Dem Booster, dem Lockdown und dem Homeoffice wird es ergehen wie dem Trottoir und dem Lavoire. Wir werden sie verwenden, solange wir sie brauchen. Wenn sie sich bewähren, werden wir sie eindeutschen. Wenn nicht, werden sie die Generationen nach uns einfach wieder ersetzen. Geplant oder gar vorgeschrieben muss das alles nicht werden. Es ist wie mit dem alten Sprichwort: Sprache passiert, während wir Pläne für sie schmieden.