Mehrsprachigkeit

Überfordert Mehrsprachigkeit unser Gehirn?

Wir kennen das: Wir suchen ein Wort und finde es partout nicht in der Sprache, die wir gerade brauchen. Oder eine andere Situation: Wir überhören eine Unterhaltung in der U-Bahn und sind uns nicht sicher, ob die beiden Gesprächspartner*innen Deutsch oder Türkisch sprechen —  so rasch und scheinbar unkoordiniert wechseln sie zwischen den beiden Sprachen hin und her. Oft sogar mitten in ein und demselben Satz. Ist das der Beweis dafür, dass unser Gehirn nicht mit mehreren Sprachen gleichzeitig zurechtkommt? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares: Nein. Im Gegenteil. 

Mehrsprachige Gehirne in monolingualer Gesellschaft

Unser Gehirn ist ein richtiges Powerhouse: Es wiegt bei Erwachsenen zwischen ein und eineinhalb Kilo — das entspricht etwa 2% unseres Körpergewichts. Doch auf ein Volumen von etwa 1,6 Liter kommen sage und schreibe 86 Milliarden Gehirnzellen. Strengen wir diese an — und das tun wir ständig, egal ob wir sprechen, spielen oder schlafen — dann verbraucht unser Oberstübchen fast ein Viertel unseres täglichen Energiebedarfs. Unser Gehirn leistet also weit mehr, als uns bewusst ist.

Trotzdem halten sich Vorurteile gegenüber Mehrsprachigkeit hartnäckig. Immer noch erhalten Eltern von pädagogischen und ärztlichen Fachkräften den Ratschlag, ihr Kind nicht mit einer zweiten oder weiteren Sprache zu belasten. Das kindliche Gehirn — heißt es da oft — sei mit dieser Aufgabe überfordert. Mehrsprachigkeit könne außerdem zu einer verzögerten Sprachentwicklung führen, zu späteren Schulproblemen, zu Identitätskrisen, ja sogar zum Stottern.

Keine dieser Ängste lässt sich wissenschaftlich bestätigen, sie lassen sich also nicht in einen klaren Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit selbst bringen. Dafür verraten sie viel über traditionell monolingual orientierte Gesellschaften wie die deutsche oder die österreichische, in denen praktizierte Mehrsprachigkeit immer noch als Gefahr für nationalen Zusammenhalt gesehen wird (vgl. Scharff-Rethfeld 2013: 47). Und sie verraten auch, dass Sprache in komplexer Interaktion zwischen biologischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten erworben und gebraucht wird.

Wir verwenden Sprache, um mit anderen zu kommunizieren. Doch auch unser Gehirn selbst ist ein hochkomplexes Kommunikationssystem. Eine riesige Datenautobahn, über die am laufenden Band Informationen aus der Umwelt in elektrische Signale übertragen und so verarbeitet werden.

Doch was passiert nun konkret bei der Verarbeitung von Sprache im Gehirn? Welche biologischen Mechanismen erlauben es Menschen, mit verschiedenen Sprachen umzugehen? Und vor allem: Wie schaffen sie es, sie voneinander zu unterscheiden? Und dabei eben nicht überfordert zu sein?

Definition vom Mehrsprachigkeit

Genau mit diesen Fragen beschäftigt sich die psycho- und neurolinguistische Zwei- und mittlerweile auch Mehrsprachigkeitsforschung. Forscher*innen versuchen herauszufinden, wie einsprachige und mehrsprachige Sprecher*innen Sprache in ihren Gehirnen organisieren. Und stehen dabei — um ehrlich zu sein — noch ganz am Anfang.

Diese Art von Forschung ist unheimlich komplex. Das liegt zum einen daran, dass es bis heute keine einheitliche wissenschaftliche Definition von „Mehrsprachigkeit“ gibt. Mehrsprachigkeit ist zwar ein häufiges, aber eben auch ein überaus uneinheitliches Phänomen.

Mehrsprachige Menschen haben unterschiedliche Lernvoraussetzungen in der Familie, in der Schule, in ihrem Alltag, sie lernen ihre verschiedenen Sprachen an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben, manchmal gesteuert, manchmal ungesteuert, sie unterschieden sich darin, wie viele Sprachen sie beherrschen. Sie erfahren ganz unterschiedliche gesellschaftliche Wertungen ihrer Sprachen, manche Sprachen genießen hohes Ansehen in einer Gesellschaft, anderer viel weniger. Mehrsprachige Menschen unterscheiden sich darin, wie motiviert sie sind, ihre Mehrsprachigkeit auch wirklich zu pflegen. Ein Faktor, der natürlich stark mit all dem zusammenhängt, was ich bis jetzt gesagt habe. Mehrsprachige Menschen unterscheiden sich daher auch in ihrer Sprachkompetenz, wobei wir wieder bei unserer Frage vom Anfang wären, nämlich:  Was bedeutet Mehrsprachigkeit überhaupt? Wann ist jemand mehrsprachig? All diese Faktoren in allen möglichen Kombinationen machen individuelle Mehrsprachigkeit zu einem schwer zu fassenden Untersuchungsobjekt.

Für das, was ich in der heutigen Folge über die neuronale Basis von Mehrsprachigkeit sagen werde, reicht aber eine relativ simple Definition: Mehrsprachig ist ein Mensch dann, wenn sie oder er mehr als eine Sprache fließend sprechen kann. Nicht unbedingt alle gleich gut, nicht unbedingt ohne Fehler, aber mehr oder weniger fließend.

Der Einsatz neuer Techniken in der Forschung erlaubt es uns mittlerweile, das Phänomen Sprache bei seiner Verarbeitung direkt im Gehirn zu beobachten. Durch bildgebende Verfahren, wie etwa die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder das funktionelle Magnet-Resonanz Imaging (fMRI), können wir herausfinden, welche Areale im Gehirn beim Verstehen oder bei der Produktion von Sprache aktiv sind.

Diese Verfahren bestätigen zwar frühere Forschungen, als man noch versuchte, ausschließlich über Beschreibungen von diversen Sprachstörungen, spezifische Sprachfähigkeiten bestimmten Hirnstrukturen zuzuordnen. Die neuen Verfahren zeigen aber auch, dass das klassische Modell von damals zu kurz greift.

Die klassischen Sprachzentren

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden zwei elementare Sprachzentren identifiziert: Der Pariser Chirurg Paul Broca entdeckte zunächst ein Areal, das für die Sprachproduktion zuständig zu sein schien. Das sog. Broca-Areal liegt im unteren Frontallappen, also relativ weit vorne im Großhirn. Kurz darauf entdeckte der deutsche Psychiater Claus Wernicke ein Areal etwas weiter hinten im hinteren Temporallappen an der Kopfseite, das er für das Sprachverständnis verantwortlich machte (das Wernicke-Areal). Bei den meisten Menschen — zumindest bei den meisten Rechtshänder*innen — liegen die sprachverarbeitenden Regionen in der linken Hinhälfte.

Heute weiß man allerdings, dass wir bei der Verarbeitung von Sprache weit mehr als nur diese beiden Strukturen benötigen. Man spricht daher auch nicht mehr von einem Sprachzentrum oder von Sprachzentren, sondern von einem großflächigen Netzwerk, in dem eine Reihe von Hirnarealen und dazwischenliegeneden Nervenbündeln miteinander verbunden sind. Und zwar nicht nur bei mehrsprachigen, sondern auch bei einsprachigen Menschen.

Außerdem ist nicht nur die linke Hirnhälfte aktiv, sondern zu einem nicht unwesentlichen Teil auch die rechte Hirnhälfte, denn dort werden etwa prosodische Informationen verarbeitet, wie zum Beispiel Betonung, Pausen oder die Sprachmelodie.

Sprache kann also als ein hochkomplexes, evolutiv entstandenes Kommunikationssystem verstanden werden, dass aus etlichen anatomisch verstreuten, aber durch Bahnen vernetzen Hirngebieten besteht (Nitsch 2007: 54), und das sich durch Lernen immer wieder verändert.

Früh erworbene Sprachen nutzen ein gemeinsames Netzwerk

Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zeigen nun, dass es grundsätzlich egal ist, wie viele oder welche Sprachen ein Mensch spricht. Das bedeutet erstens, dass es keine Areale im Gehirn gibt, die für bestimmte Sprachen reserviert sind quasi. Ein Kind, das in einem deutschsprachigen Umfeld aufwächst, aktiviert durch den deutschen Input also kein Deutsch-Areal. Ein französischsprachiges Kind, kein Französisch-Areal und so weiter.

Daraus ergibt sich auch, dass Sprachen im Gehirn nicht per se getrennt gespeichert und verarbeitet werden. Neuere Untersuchungen ergeben aber auch, dass der Zeitpunkt, an dem die unterschiedlichen Sprachen gelernt oder erworben werden, einen großen Einfluss darauf hat, wie diese Sprache im Gehirn repräsentiert sind.

Eine sehr einflussreiche Studie aus der Schweiz hat in diesem Zusammenhang Proband*innen untersucht, die zumindest drei Sprachen fließend beherrschten.

Die Forscher*innen haben die Versuchspersonen in zwei Gruppen eingeteilt: Eine erste Gruppe mit frühen Mehrsprachigen, also mit Menschen, die vor dem Alter von 3 Jahren mit zwei Sprachen aufgewachsen sind und nach dem Alter von neun Jahren eine dritte Sprache gelernt haben. Und eine zweite Gruppe mit späten Mehrsprachigen, die sowohl ihre zweite also auch ihre dritte Sprache erst nach dem Alter von neun Jahren gelernt haben, die also anfangs einsprachig aufgewachsen sind.

Die Teilnehmer*innen wurden nun gebeten, einer ihnen bekannten Person zu erzählen, was sie am Vortag gemacht hatten. Der Clou daran, alle Proband*innen wurden in allen drei Sprachen getestet. Und zwar immer gemeinsam mit einer Person, mit der sie auch im Alltag normalerweise nur in der jeweiligen Sprache kommunizieren. Das Ganze natürlich in einer Magnetröhre, damit die Forscher*innen währenddessen Bilder von ihren Gehirnen machen konnten.

Auf den Hirnscans zeigte sich anschließend: Die frühmehrsprachigen Proband*innen aktivierten für ihre drei Sprachen überlappende Subareale im Broca-Zentrum. Interessant an diesem Befund war, dass auch für die dritte, erst später erworbene Sprache, dieselben Subareale aktiv waren. Anders sahen die Aktivierungsmuster bei den späten Mehrsprachigen aus: Diese hatten innerhalb des Broca-Zentrums kleinere Subareale für jede Sprache aufgebaut, die sich nur teilweise überlappten.

Die Forscher*innen schließen daraus, dass früh gelernte Sprachen das gleiche Netzwerk innerhalb des Broca-Zentrums benutzen, ein Netzwerk, dass auch noch Jahre später weiteren Sprachen offen steht.

Anschließende Forschungen konnten diese grundlegenden Ergebnisse reproduzieren, interpretieren diesen Befund aber etwas anders: Sie gehen davon aus, dass frühe Mehrsprachige einfach größere Teile der besagten Subareale in ihren Sprachen aktivieren als späte Mehrsprachige.

In jedem Fall geht frühe Mehrsprachigkeit mit einer stärkeren Aktivierung im Broca-Areal einher, in die auch später erworbene Sprachen integriert werden können. Dieser Befund deckt sich mit psycholinguistischen Studien, aus denen man bereits weiß, dass sich früh mehrsprachige Menschen leichter tun, weitere Sprachen zu lernen (vgl. Nitsch 2007:57)

Auswirkungen auf Arbeitsweise und Struktur

Ein früher Mehrspracherwerb hat aber auch Auswirkungen auf andere Hirnregionen. Auf Regionen zum Beispiel, die an der Sprachkontrolle beteiligt sind, wie etwa der cinguläre Cortex oder Teile der vorderen Basalkerne, die deutlich tiefer im Gehirn liegen. Diese Bereiche sind dann besonders aktiv, wenn Sprecher*innen zwischen zwei Sprachen unterscheiden müssen. Anders gesagt: Sie helfen mehrsprachigen Sprecher*innen dabei, ihre Sprachen nicht ungewollt zu vermischen.

Außerdem scheint Mehrsprachigkeit nicht nur einen Einfluss auf die Arbeitsweise des Gehirn zu haben, sondern auch auf seine Struktur. Sowohl  frühe als auch späte Mehrsprachige wiesen mehr graue Masse in diversen Regionen auf, die mit Sprachflüssigkeit, akustischer Wahrnehmung sowie mit Aussprache und phonologischen Prozessen in Zusammenhang stehen (vgl. Costa/Sebastián-Gallés 2014: 8).

Auch in der weißen Masse, die unsere grauen Hirnzellen im Hintergrund quasi zusammenhalten und vernetzen, konnten bereits Unterschiede zwischen ein- und mehrsprachigen Menschen beobachtet werden.

Jüngste Forschungen interessieren sich mittlerweile auch für Einflüsse auf kognitive Prozesse außerhalb von Sprache. Neurolinguistische Studien bestätigen die Vermutung, dass Mehrsprachigkeit auch Auswirkungen auf jene Hirnstrukturen haben, die für unsere Exekutivfunktionen zuständig sind, also Dinge wie Konzentration oder Aufmerksamkeit.

Mehrsprachige Gehirne arbeiten anders

Zeigt die Forschung nun, dass die Gehirne von einsprachigen und mehrsprachigen Menschen anders arbeiten? Ja, und sie zeigen sogar, dass sie anders aussehen. Doch die Forschung zeigt vor allem eines: Mehrsprachigkeit ist für unser Gehirn keine Belastung.

Unser Gehirn ist ein beeindruckendes Organ. Es ist nicht nur ungemein leistungsstark, sondern auch überaus flexibel. Es passt sich an seine jeweilige Umgebung an, und kommt darin zurecht. Wenn es mit zwei, drei oder mehr Sprachen gefüttert wird, bildet es spezifische Netzwerke aus und rekrutiert Regionen, die es ihm erlauben, diese Sprachen auseinanderzuhalten.

Je früher wir unsere Kinder mit mehreren Sprachen umgeben, je mehr Zeit wir ihnen geben, diese Sprachen gut zu beherrschen, desto dichter wird dieses Netzwerk und desto feiner richtet sich seine Funktionsweise an den Anforderungen einer mehrsprachigen Umgebung aus.

Mit anderen Worten: Unser Gehirn lernt mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Und das ist nicht besonders oder anstrengend. It‘s just our brain doing its job.

Weiterlesen

  • Costa, Albert; Sebastián-Gallés, Núria (2014) How does the bilingual experience sculpt the brain?, Nature Reviews Neuroscience, 15(5): 336-45.
  • Nitsch, Cordula; Daniela Zappatore (2003) Das mehrsprachige Gehirn, Basler Stadtbuch: Christoph Merian Stiftung.
  • Nitsch, Cordula (2007) Mehrsprachigkeit: eine neurowissenschaftliche Perspektive. In. Anstatt, Tanja: Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen: Erwerb, Formen, Förderung. Narr Franke Attempto: Tübingen.
  • Scharff-Rethfeldt, Wiebke (2013) Kindliche Mehrsprachigkeit.Grundlagen und Praxis der sprachtherapeutischen Intervention. Thieme: Stuttgart.