Wer wohl am besten sänge
Da sitzen nun der Kuckuck und der Esel beisammen und krächzen sich die Seele aus dem Leib. Nur um herauszufinden, dass keiner von beiden großes Singtalent besitzt. Wieso? Weil Konjunktiv.
Sehen wir uns die Sache genauer an. Im Original geht die Geschichte so:
Der Kuckuck und der Esel,
Die hatten großen Streit,
Wer wohl am besten sänge
Zur schönen Maienzeit
Der Kuckuck sprach: „Das kann ich!“
Und hub gleich an zu schrei’n.
„Ich aber kann es besser!“
Fiel gleich der Esel ein.
Das klang so schön und lieblich,
So schön von fern und nah;
Sie sangen alle beide
„Kuckuck, Kuckuck, i-a, i-a!“
„Kuckuck, Kuckuck, i-a, i-a!“
Wer den ersten Teil der Podcastfolge zum deutschen Konjunktiv schon gehört hat, weiß, dass das Verb in der ersten Strophe am Ende von Vers drei im Konjunktiv steht: sänge.
Wer noch nicht reingehört hat, frischt sein Wissen am besten vor dem Weiterlesen auf. Hier lang.
Im zweiten Teil der Podcastfolge zum Konjunktiv haben wir allerdings erfahren, dass Konjunktiv nicht gleich Konjunktiv ist. Wir haben zwei unterschiedliche Konjunktivformen auf Deutsch, weil sie zwei unterschiedliche Aufgaben in der Sprache erfüllen. Während der Konjunktiv I in der indirekten Rede benutzt wird, zeigt der Konjunktiv II Unwirklichkeit an.
Da es sich im dritten Vers um eine Redewiedergabe handelt, müsste die korrekte Form der indirekten Rede also lauten: Wer wohl am besten singe. Also im Konjunktiv I.
Das Verb sänge steht aber im Konjunktiv II. Ein Versehen? Bei einem deutschen Hochschullehrer für Germanistik wie von Fallersleben sehr unwahrscheinlich. Ein Akt dichterischer Freiheit? Vielleicht. Doch eine dritte Interpretation kommt in diesem Fall wohl am ehesten in Betracht.
Mit dem Konjunktiv II in der indirekten Rede kann der Liederschreiber den Gesangswettbewerb der beiden Streithähne geschickt ins Lächerliche ziehen, was mit dem Hinweis auf das ohrenbetäubende „Geschrei“ in der zweiten Strophe noch einmal untermauert wird. Sänge weist darauf hin, dass der Redewiedergebende, also der Dichter, nicht einfach vom Eurovision der Tiere berichtet, sondern die Tätigkeit des Singens an sich in Frage stellt.
Die Frage Wer singt am besten? ist für Hoffmann von Fallersleben vermutlich sehr schnell beantwortet. Keiner der beiden. Denn Singen geht seiner Meinung nach anders.
Mit dem Konjunktiv II deutet der Dichter also bereits in der ersten Strophe an, dass der Klang, den er in der dritten Strophe vernimmt, bei weitem nicht so „schön und lieblich“ ist, wie die beiden Schreihälse uns glauben machen wollen.
Das unschuldige Kinderlied wird so zu einer ironischen Abhandlung über zwei Exzentriker, die gern dick auftragen, um dann in einem Kräftemessen Kräfte zu messen, die der eine nicht hat und der andere noch viel weniger.
Wer nun Lust bekommen hat, das Lied selbst anzustimmen: Hier geht’s zur musikalischen Untermalung und zum Liedtext zum Mitsingen.
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