Sprachliche Relativität.

Können wir ohne Sprache denken?

Denk nicht an einen rosa Elefanten! Hat nicht geklappt, oder? Unser Kopf kann sich allerlei Dinge ausmalen. Doch wir können nicht keinen rosa Elefanten sehen. Warum ist das so? Und wie sehr beeinflusst unsere Sprache unser Denken. Darüber denken wir in diesem Beitrag einmal ein bisschen genauer nach.

Sucht man im Internet über den Algorithmus der Wahl nach Zitaten über Sprache, wird man schnell fündig.

„Die Griechen haben nur ein und dasselbe Wort, Logos, um Sprache und Vernunft zu bedeuten.“

(Thomas Hobbes)

„Ändere deine Sprache und du änderst deine Gedanken.“

(Karl Albrecht)

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“

(Ludwig Wittgenstein)

Es gibt kaum einen berühmten oder nicht berühmten Menschen, der sich noch nie Gedanken über Sprache gemacht hat. Doch was ist nun dran, an all den schönen Worten? Brauchen wir Sprache wirklich um zu denken? Und welchen Einfluss hat unsere Sprache auf unser Denken?

Brauchen wir Sprache, um zu denken?

Die Antwort auf die erste Frage ist recht rasch gefunden. Natürlich bringen wir unsere Gedanken ganz intuitiv mit Sprache in Verbindung. Denn alles, was wir sprechen, war zuvor einmal gedacht. Auch, wenn wir manchmal lieber ein bisschen länger darüber hätten nachdenken sollen, bevor wir es aussprechen.

Doch muss Sprache wirklich immer sein, wenn wir unsere grauen Zellen anstrengen? Das Denken war für uns Menschen lange Zeit nicht empirisch beobachtbar. Fragen wie diese wurden also bis in die Neuzeit hinein in erster Linie in der Sprachphilosophie behandelt.

Platon sprach beim Denken noch vom “inneren Gespräch der Seele mit sich selbst“. Rund 2000 Jahre später hält Steven Pinker (2001)  die Vorstellung, Sprache und Denken seien ein- und dasselbe, praktisch für eine “konventionelle Absurdität”. Wie kam es zu diesem radikalen Kurswechsel?

Lassen sich denn Sprache und Denken wirklich so leicht entkoppeln? Ja, sagt da unsere Intuition schon wieder. Wie haben denn unsere Vorfahren gedacht, bevor sie Sprache entwickelten. Oder wie denken denn Babys, bevor sie lernen zu sprechen?

Ein Baby, das seinen Schnuller vom Hochstuhl wirft, um ihm begeistert auf seiner Flugbahn Richtung Boden zuzuschauen, entwickelt nach mehrmaliger Wiederholung dieses kleinen Experiments eine Art intuitiver Physik, für die es zunächst noch keine Sprache braucht. Es versteht, dass Dinge zu Boden fallen, wenn man sie nicht mehr festhält. Für die mathematische Herleitung einer Gravitationstheorie, reicht diese Art von Denken aber noch nicht aus.

Sprache hilft uns zu abstrahieren, Beziehungen zwischen Dingen herzustellen und Analogien zu bilden. Denn nicht alles, was wir sprachlich ausdrücken können, können wir uns auch bildlich vorstellen.

Ein Beispiel:

Denk nicht an einen rosa Elefanten.

Hat nicht geklappt, oder? Unser Kopf kann sich allerlei Dinge ausmalen. Die weißesten Strände, wenn wir vor einem Berg an Arbeit sitzen. Den stickigsten aller stinkigen Fischmärkte, während die Bürokollegin wieder mal Heringssalat zu Mittag isst. Und rosa Elefanten, wenn wir gerade nichts Besseres zu tun haben.

Was unser Gehirn aber nicht kann, ist eine Verneinung zu visualisieren. Wir können nicht keinen rosa Elefanten sehen. Für diese simple logische Operation, die wir sprachlich durch Wörter wie nicht, kein, ohne ausdrücken, brauchen wir eben genau das: Wörter. Sprache.

Wenn wir also keine Lust haben zu arbeiten, ohne mit der Wimper zu zucken die Bettdecke wieder über den Kopf ziehen und partout nicht aufstehen wollen, ist uns Sprache also doch sehr nützlich.

Andere Dinge funktionieren aber auch ohne Sprache sehr gut. Die Orientierung im Raum zum Beispiel. Wir müssen uns den täglichen Weg zur Arbeit nicht im Kopf vorsagen, um ihn zu finden. Oder das Schachspielen. Unseren nächsten Zug müssen wir nicht verbalisieren, um ihn uns vorstellen und um ihn ausüben zu können.

Viele Handlungen und Dinge in unserem Alltag müssen wir also gar nicht versprachlichen. Und zum Glück — denn sonst wären wir für das Leben, das sich rund um uns herum abspielt, einfach zu langsam. Auch wenn manche von uns sprachlich ganz schön auf Zack sind. Keine Frage.

Soweit, so gut. Denken geht also in bestimmten Situationen auch ohne Sprache. Etwas komplizierter wird die Sache, wenn wir uns noch einmal die zweite Frage stellen: Beeinflusst Sprache unser Denken? Und wenn ja, wie stark?

Beeinflusst Sprache unser Denken?

Ich sehe die Welt anders als ihr. Kultur, Persönlichkeit, Lebenserfahrung spielen hier eine Rolle. Aber hat auch meine Sprache einen Einfluss darauf, wie ich denke und mit der Welt um mich herum interagiere?

Über diese Frage streitet man sich heute nicht mehr nur in der Sprachphilosophie. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Denken wird heute an der Schnittstelle verschiedener Forschungsrichtungen untersucht: Psychologie, Linguistik, Kognitionswissenschaft, Biologie.

In der Linguistik entwickelte sich die Sache mit der „Sprache und dem Denken“ im 19. Jahrhundert zu der Forschungsfrage schlechthin. Einer Frage, die die ganze Disziplin für ein gutes Stück Wissenschaftsgeschichte definieren sollte. Der aufkeimende Nationalismus, die ständigen Grenzneuziehungen und das Ende der sogenannten Belle époque in Europa drängen eine Frage wie diese auch am politischen Parkett in den Vordergrund.

Wie einfach es wäre, die politischen Gegner schon allein aufgrund ihrer Sprache als vollkommen und absolut anders darzustellen. Als eine Gruppe von Menschen, die die Welt, die wir uns teilen, ganz anders wahrnimmt, weil sie aufgrund ihrer anderen Sprache gar nicht in der Lage sind, diese Welt so zu sehen, wie wir es tun. Wie einfach es wäre, auf dieser Grundlage totalitäre Herrschaftsansprüche durchzusetzen, wenn doch eine friedliche politische Zusammenarbeit mit „Andersdenkenden“ schier unmöglich erscheint.

Doch nicht nur in Europa konnte man diesem verheißungsvollen Gedanken etwas abgewinnen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts verhalfen die Forschungsarbeiten des (selbsternannten) US-amerikanischen Sprachwissenschaftlers Benjamin Lee Whorf dieser alten Idee zu neuem Ansehen.

Die Sapir-Whorf-Hypothese

Aufbauend auf den Arbeiten seines Lehrers Edward Sapir formulierte er aus seinen Sprach- und Kulturvergleichen eine bis heute auch außerhalb der Linguistik immer noch kontrovers diskutierte Hypothese.

Die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, — so glaubte er — würde durch Struktur und Wortschatz seiner oder ihrer Muttersprache weitgehend beeinflusst. Mehr noch: Wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, das Wahrgenommene kognitiv verarbeiten, und wie wir uns an das erinnern, was wir wahrgenommen haben, werde durch das Sprachsystem unserer Muttersprache regelrecht gesteuert. Ein Denken außerhalb dieses System sei quasi unmöglich.

Bestätigt sah er diese Annahme vor allem in seiner Arbeit zur Sprache der Hopi, eines indigenen Volks, das in heutigen Gebiet der USA lebt. Bei seinen sprachvergleichenden Untersuchungen fiel ihm auf, dass das Hopi “keine Wörter, grammatikalischen Formen, Konstruktionen oder Ausdrücke hat, die sich direkt auf das beziehen, was wir „Zeit“ nennen“ (vgl. Whorf 1963; in: Carroll 1956: 57f.). Wobei er mit „wir“ indoeuropäische Sprachen meinte — allen voran vermutlich das Englische.

Whorfs Schlussfolgerung aus dieser Beobachtung war nun folgende: Aufgrund der vermeintlich fehlenden Zeitformen und Zeitsausdrücke sei es den Sprecher*innen des Hopi nicht möglich, Zeit als Fluss quasi von der Vergangenheit, über die Gegenwart bis in die Zukunft zu denken. Ihr Zeitverständnis würde sich also grundlegend von Sprecher*innen anderer Sprachen — in seinem Fall englischsprachigen Amerikaner*innen — unterscheiden.

Für ihn der Beweis, dass sich Menschen Dinge nicht vorstellen können, wenn sie nicht in der Lage sind, sie sprachlich auszudrücken. Diese starke Version der Hypothese wird sprachlicher Determinismus genannt.

Zum Glück erwies sich diese Behauptung sehr schnell als Trugschluss. Nicht zuletzt da Whorfs Forschungen zum Hopi aus der Befragung nur eines einzigen Hopi-Sprechers bestanden, der zum Zeitpunkt der Befragungen bereits lange Zeit in New York wohnte. Überprüfungen mit weiteren Muttersprachler*innen aus dem Hopi-Reservat führte er nicht durch.

Doch trotz der augenscheinlichen wissenschaftlichen Mängel seiner Forschung zum Hopi, machte genau diese ihn schlagartig berühmt. Seine Schlussfolgerungen machten als sogenannte „Sapir-Whorf-Hypothese“ rasch die Runde durch diverse wissenschaftliche Disziplinen. Einmal wurde die Hypothese stark ausgelegt, man sprach von sprachlichem Determinismus. Ganz nach dem Motto: Nur was ich sagen kann, kann ich auch denken. Andere wiederum bevorzugten eine etwas schwäche Version: Je nach Sprache würden wir Reize aus der Umwelt unterschiedlich im Gehirn kategorisieren, also einordnen. Sprache würde unser Denken also mehr oder weniger stark beeinflussen — beschränken würde sie es aber nicht.

Mittlerweile wurden viele der ursprünglichen Aussagen von Whorf jedoch stark relativiert oder sogar widerlegt.; auch seine Beobachtungen zum Hopi. Das sprachliche Relativitätsprinzip — egal ob in der starken oder in der schwachen Variante — kam in Verruf.

Heute wissen wir: Wir können auch ohne Sprache denken. Nur nicht an keine rosa Elefanten. Trotzdem war die fachliche Diskussion zur Frage nach der Sprache und dem Denken lange Zeit von den Grabenkämpfen entlang der sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese bestimmt. Die radikalere Variante des sprachlichen Determinismus wird heute von den allermeisten Forschenden abgelehnt. Und dennoch: Das Verhältnis von Sprache und Denken ist auch heute noch — ein ganzes Jahrhundert nach den Thesen von Sapir und Whorf — Gegenstand zahlreicher Forschungsrichtungen. Doch dazu kommen wir noch. Und zwar in der nächsten Episode von Wispr.

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