Meilensteine des kindlichen Spracherwerbs

Ich freue mich, dass ihr auch heute wieder dabei seid, um mit mir über Sprache nachzudenken. Diese Woche geht es nämlich um die sogenannten Meilensteine des kindlichen Spracherwerbs. Nachdem wir uns letztes Mal schon verschiedene große Spracherwerbstheorien angesehen haben, uns also gefragt haben, wie man sich theoretisch erklären kann, warum Kinder überhaupt sprechen lernen, wird es heute um die konkreten Schritte dieses Lernprozesses gehen.

Wie auch schon letztes Mal bleiben wir auch heute wieder beim monolingual deutschsprachigen und ungestörten Spracherwerb. Die Meilensteine aus dem Titel der heutigen Folge sind im Grunde eigentlich Entwicklungssequenzen. Man geht also in der (germanistischen) Spracherwerbsforschung davon aus, dass Kinder auf ihrem Weg zur Zielsprache (bei uns ist das heute also Deutsch) eine Folge von Entwicklungsschritten durchlaufen, die systematisch beschreibbar, mehr oder weniger geordnet und damit vergleichbar zwischen den Kindern sind. Diese Schritte können sich aber durchaus auch von Kind zu Kind unterscheiden, sowohl was den Zeitraum betrifft, indem sie durchlaufen werden, als auch was die Art der Entwicklung betrifft.

Ebenen des Erstspracherwerbs

Klassischerweise kann man die Entwicklungsverläufe des kindlichen Spracherwerbs auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben. Man schaut sich also an, wie ein Kind Laute erkennt, unterscheidet und produziert (also die Ebene der Phonetik und der Phonologie), wie es Wörter versteht, speichert und abruft (also die Ebene des Lexikons und der Semantik), wie es mit Wörtern dann Sätze bildet (also die Ebene der Syntax) und schließlich wie es seine sprachlichen Fähigkeiten dann in der Kommunikation einsetzt (das wäre dann die Ebene der Pragmatik).

Auf all diesen Ebenen wird dann noch zusätzlich unterschieden zwischen rezeptiven und produktiven Fähigkeiten, das heißt es geht einerseits darum, wie und was das Kind versteht und andererseits darum, was es selbst auch schon anwenden kann.

Die Annahme, dass Sprache ein fein säuberlich gegliedertes System an Zeichen ist, das auf wiederum fein säuberlich voneinander getrennten Ebenen funktioniert, ist natürlich eine künstliche oder anders gesagt: eine rein analytische. Man kann also Sprachentwicklung auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben und analysieren, in der Realität vollziehen sich Spracherwerbsprozesse sowohl simultan als auch ebenenübergreifend. In diesem Zusammenhang wird oft von bootstrapping gesprochen, also einem Lernmechanismus, der es Kindern erlaubt, vorhandenes Wissen zu nutzen, um neues Wissen aufzubauen. Und dieser Mechanismus funktioniert eben auch ebenenübergreifend. Das passiert in etwa, wenn das Kind prosodische Merkmale einer Sprache heranzieht, um herauszufinden, wo Wörter anfangen oder aufhören , oder wie Wörter auf der Satzebene miteinander kombiniert werden können. Aber zu den Details kommen wir noch.

Die drei leitenden Fragen in der Spracherwerbsforschung sind:

  1. Ist sprachliches Wissen angeboren oder erlernt?
  2. Wird Sprache  über sprachspezifische  oder über allgemein-kognitive Mechanismen erworben?
  3. Was ist sprachliches Wissen eigentlich? Was brauchen wir, um eine Sprache zu beherrschen?

Die beiden ersten Fragen haben wir bereits letztes Mal versucht zu beantworten. Wir haben festgestellt, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Mischung aus all dem sein muss. Eine Mischung aus angeborenem und erlerntem Wissen sowie auch aus sprachspezifischen und allgemein-kognitiven Mechanismen.

Die dritte Frage ist in der letzten Folge allerdings offen geblieben. Denn genau darum soll es heute gehen. Dabei muss man aber im Kopf behalten, dass dieses sprachliche Wissen, über das wir im Folgenden sprechen werden, den Sprecher·innen einer Sprache keine der beiden Arten von sprachlichem Wissen bewusst sein muss, sowohl das deklarative Wissen, also das Wissen, dass etwas so oder so ist, als auch das prozedurale Wissen, also das Wissen, wie etwas gemacht wird.

Ein Kind lernt also, wenn es klein ist, dass es bestimmte Regularitäten in einer Sprache gibt, welche das sind, und wie es Wörter und Sätze korrekt verarbeitet und produziert, aber es nicht erklären, sozusagen, wie Sprache funktioniert. Das müssten wir eigentlich sehr gut nachvollziehen können. Wie viele von euch haben sich schon einmal so richtig über die Grammatik ihrer Sprachen Gedanken gemacht? Also ich meine so richtig richtig. Na eben. (Ordentlich Gehirnmasse bauen die beiden Beträge zum Konjunktiv oder zur schwachen Deklination auf.)

Aber erst mal zurück zum Thema. Wie ist das nun bei den Kindern?

Allgemeine Entwicklungslogik

Im Großen und Ganzen reichen die Stadien des Erstspracherwerbs von der Lautentwicklung, über die Entwicklung von Gestik und Mimik sowie die Entwicklung des Wortschatzes, bis hin zum Syntaxerwerb und zur Entwicklung konversationeller und diskursiver Fähigkeiten.

Ein wesentliches Merkmal des Erstspracherwerbs ist, dass es hier eine allgemeine Entwicklungslogik zu geben scheint. Diese Entwicklung beginnt bereits vor dem ersten Schrei, geht dann weiter, indem das Kind anfängt zu gurren, dann zu babbeln und schließlich erste Wörter spricht. Nachdem es dann sein oder ihr Vokabular ausgeweitet hat, bildet es erst Ein-, dann Zwei-, dann Drei-, dann Mehrwortsätze. Dabei erwirbt es morphologische Markierungen und eignet sich komplexere syntaktische Muster an. Das alles, also vor allem die erstgenannten Dinge, nutzt das Kind schon sehr früh, um mit seinen oder ihren Bezugspersonen zu kommunizieren, quasi im Dialog. Später dann auch um komplexere sprachliche Handlungen auszuführen: um Geschichten zu erzählen zum Beispiel, um etwas zu beschreiben und so weiter und so fort.

In diesem Themenblock wollen wir uns einen groben Überblick über die folgenden Stationen der Sprachentwicklung verschaffen: den Erwerb phonetischer und phonologischer Fähigkeiten (also die Lautentwicklung), der lexikalischer und semantischer Fähigkeiten (also die Wortschatzentwicklung), morphologischer Fähigkeiten (also Fähigkeiten, die mit der Wortbildung und der Flexion von Wörtern zusammenhängen), syntaktischer Fähigkeiten (also alles was mit der Bildung von Sätzen zu tun hat) und schließlich pragmatische Fähigkeiten (also wie das Kind lernt, Sprache einzusetzen um kommunikative Ziele zu erreichen).

Wie bereits angesprochen sind diese Bereiche nur am Papier so klar voneinander trennbar. Trotzdem werden wir diesen analytischen Aufbau beibehalten. Das hat zwei Gründe: Erstens wollen wir nicht den Überblick in diesem Sprachdschungel verlieren. Und zweitens wird uns dieser große Themenblock mehrere Beiträge lang beschäftigen. Durch diese Trennung fällt es uns leichter, einzelne Kapitel voneinander abzugrenzen.

Wir werden heute hauptsächlich bei den Lauten bleiben, und zwar bei der Lautwahrnehmung. Das heißt bevor wir uns anschauen, wie Kinder lernen, Laute zu produzieren, werden wir einen Blick darauf werfen, wie sie Laute überhaupt erst einmal wahrnehmen.

Schließlich fängt lernen beim Hören an.

Ich glaube, ich habe gerade die neue Catchphrase für den Podcast gefunden! Aber im Ernst, die kindliche Sprachentwicklung beginnt bereits lange vor dem ersten Wort.

Frühe Lautwahrnehmung

Man konnte mittlerweile nachweisen, dass Babys bereits wenige Tage nach der Geburt eine besondere Vorliebe für menschliche Stimmen haben. Vor allem die ihrer Mutter scheint ihnen am liebsten zu sein, also sowohl ihr Klang als auch ihre Sprache in Abgrenzung zu anderen Sprachen. Man geht also davon aus, dass die Grundsteine der Sprachentwicklung bereits im Mutterleib gelegt werden. Das Kind gewöhnt sich quasi schon im Bauch an die Umgebungssprachen, in die es später einmal hineingeboren wird. Das können ja natürlich auch mehrere sein.

Erforschen lässt sich das zum Beispiel über sogenannte Nuckelexperimente. Der englische Terminus high amplitude sucking weist schon darauf hin, worauf es bei diesen Experimenten ankommt. Säuglinge haben bis zu einem Alter von maximal sechs Monaten einen natürlichen Saugreflex. Wird ein Schnuller nun an einen Computer angeschlossen, kann so Geschwindigkeit und Intensität des Saugens gemessen werden. Werden dem Kind dann auditive Stimuli angeboten, lässt sich, stark verkürzt gesagt, an diesen beiden Parametern ablesen, ob das Kind den Stimulus interessant findet, oder nicht. Oder anders gesagt: ob es ihn neu findet oder nicht. Denn: Interesse zeigt das Kind in diesem Alter verstärkt durch intensiveres und schnelleres Nuckeln.

Auf diese Weise kann nun zum Beispiel überprüft werden, ob ein Kind zwei unterschiedliche Sprachen voneinander unterscheiden kann. Experimente in diese Richtung zeigen, dass Säuglinge ihre Muttersprache eben schon knapp nach der Geburt von anderen Sprachen unterscheiden können, und dass sie diese Unterscheidung anhand von prosodischen Merkmalen machen. Das heißt, salopp gesagt, sie erkennen ihre Muttersprache an ihrer Melodie. Um zwischen zwei dem Säugling noch unbekannten Sprachen unterscheiden zu können, muss die Melodie der beiden Sprachen allerdings sehr unterschiedlich sein. Auch wenn sich die Muttersprache und die andere Sprache prosodisch sehr ähnlich sind, wenn das Kind also auf andere Unterschiede zurückgreifen müsste, wie zum Beispiel auf den Unterschied zwischen Lauten, dann braucht es dafür etwas länger. Das gelingt Kindern meist erst mit ca. neun Monaten.

Wahrnehmung lautlicher Unterschiede

Das heißt aber nicht, dass sehr junge Babys nicht zwischen einzelnen Lauten unterscheiden könnten. Im Gegenteil, grundsätzlich sind Säuglinge sehr gut darin, zwischen Lauten zu unterscheiden. Viel besser eigentlich noch als wir Erwachsene. Bis zu einem Alter von ca. einem Jahr fallen einem Kind auch noch Lautunterschiede auf, die in der Muttersprache gar nicht relevant sind. Lautliche Kontraste sind in einer Sprache dann nicht relevant, wenn sie zu keinem Bedeutungsunterschied führen. Ein berühmtes Beispiel: Sprecher·innen des Japanischen können im Erwachsenenalter nicht mehr zwischen den Phonemen /l/ und /r/ differenzieren, denn im Japanischen gibt es keine Minimalpaare (Wortpaare, die sich nur durch einen einzigen Laut unterscheiden, in unserem Fall eben /l/ und /r/). Sie können zwar akustisch wahrgenommen werden, gehen beim Sprechen aber unter, weil dieser Unterschied nicht wichtig ist. Auf Deutsch hingegen werden /l/ und /r/ sehr wohl als unterschiedliche Phoneme (bedeutungstragende lautliche Einheiten) gezählt. Schließlich handelt es sich bei lief und rief zum Beispiel um zwei ganz unterschiedliche Aktivitäten.

Das bedeutet, die anfängliche Fähigkeit des Säuglings auch noch so geringe phonetische Unterschiede wahrzunehmen, engt sich mit der Zeit ein und pendelt sich dann eben am Ende des ersten Lebensjahres auf das Lautinventar der Muttersprache ein.

3 Strategien beim Segmentieren

Was außerdem noch zentral ist, um Spracherwerb überhaupt zu ermöglichen, ist die Fähigkeit zu segmentieren. Das heißt das Kind muss lernen, einen auf den ersten Blick unkontrollierten Strom aus Sprachlauten so zu zerlegen, dass einzelne Einheiten hörbar werden, die es später dann, im weiteren Verlauf der Entwicklung, selbst zu solch unkontrollierten Sprachströmen zusammensetzen kann.

Deutsch ist in dieser Hinsicht ja eine “liebe” Sprache. Wir segmentieren meist sehr deutlich und markieren nicht nur Wort-, sondern auch Satzgrenzen in der Regel sehr klar. Ich habe dazu vor einigen Wochen schon einmal einen Infobeitrag auf Instagram gemacht.

Alle, die schon einmal Französisch gelernt haben, wissen wahrscheinlich, wie schwierig es sein kann, anfangs auch nur irgendetwas Bedeutsames herauszuhören. Das liegt daran, dass das Französische Grenzen nicht nur seltener markiert als das Deutsche, sondern noch dazu vorhandene Grenzen absichtlich verwischt, durch die Liaison zum Beispiel. Für ein französisch aufwachsendes Kind ist es also durchaus nicht ungewöhnlich, wenn es anfangs davon ausgeht, dass Freunde samis heißen. Schließlich hört es dieses Wort oft in Zusammenhang mit dem direkten Artikel les, oder den Possessivartikeln mes, tes und so weiter. Im Satz bzw. in der Kombination klingt das dann wie lesamis oder mesamis, anstatt les amis, mes amis.

Das Segmentieren fällt deutschsprachig aufwachsenden Kindern in der Regel leichter. Grundsätzlich orientiert es sich dabei an drei hilfreichen Dingen: Zum einen an der Prosodie. Vor allem der Rhythmus scheint Kindern das Herauslösen von Wörtern aus dem Sprachstrom zu erleichtern. Im Deutschen herrscht, was die Wortbetonung angeht, der sogenannte Trochäus vor. Das heißt, sehr viele Wörter beginnen mit einer betonten Silbe, auf die dann eine unbetonte folgt. Ein Kind das dieses Betonungsmuster erkannt hat, sucht also vorrangig Wortanfänge in betonten Silben. Das ist eine sehr effektive Strategie, die auch schon sehr früh funktioniert. Mit etwa sechs Monaten hat sich ein Kind an das dominante Betonungsmuster seiner oder ihrer Muttersprache gewöhnt, kann diese metrische Strategie also ab diesem Zeitpunkt einsetzen.

Nur leider reicht diese Strategie allein nicht aus, denn sie würde zu sehr vielen falschen Interpretationen führen. Schließlich werden viele deutsche Wörter nach dem Trochäus betont, aber eben lang nicht alle. Das Kind nutzt ab ca. neun Monaten dann auch sogenannte phonotaktische Regularitäten als Informationsquelle für Wortgrenzen. Sie achten in dieser Phase sehr stark auf bestimmte Konsonantenfolgen innerhalb eines Wortes. Es fällt ihnen also zum Beispiel auf, wenn sie Konsonantencluster hören, die nicht üblich sind. Wenn also ein Kind in einer deutschen Aussage /tk/ hört, deutet das auf eine Wortgrenze hin, weil diese beiden Laute (Konsonanten) für gewöhnlich nicht innerhalb eines Wortes auftreten, sehr wohl aber am Ende und Anfang zweier verschiedener Wörter, wie in hat kein zum Beispiel.

Ganz ähnlich gehen deutschsprachig aufwachsende Kinder da bei Ich- und Ach-Lauten, die beide mit ch geschrieben werden, für die es aber auf Deutsch zwei verschiedene Aussprachevarianten gibt. Der Ich-Laut wird vorne im Mund ausgesprochen, wie in ich, der Ach-Laut hinten, wie in ach. Auch hier lernen Kinder relativ schnell, dass die zweite Variante, der Ach-Laut, nie am Wortanfang stehen kann. Das heißt vor diesem Laut dürfen sie keine Wortgrenze annehmen.

Als dritte Strategie kommen Inhalts- oder hochfrequente Funktionswörter in Frage. Bei Kindern mit sieben, acht Monaten ist nachgewiesen worden, dass sie Wörter, die sehr oft in der gesprochenen Sprache vorkommen, speichern, und sie dann als Segmentierungshilfe heranziehen. Dabei ist es unwichtig, ob das Kind die Bedeutung dieser Wörter bereits kennt oder nicht. Auch der eigene Name, den Kinder meist mit vier Monaten kennen und wiedererkennen, kann hier helfen.

Wenn man über die Wortgrenze hinausgeht — schließlich ist es für Kinder auch wichtig, größere syntaktische Einheiten zu erkennen — dann sind auch hier wieder vor allem prosodische Merkmale von Bedeutung. Bereits im Alter von sieben bis zehn Monaten nutzen Kinder zum Beispiel natürliche Pausen an den Satzgrenzen, um sich in einem gesprochenen Text zu orientieren.

Grundsätzlich setzen sehr junge Kinder, also in der ersten Hälfte des ersten Lebensjahres, vorrangig prosodische, also rhythmisch-metrische Segmentierungsstrategien ein und lernen dann in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres die verschiedenen Strategien, die wir eben angesprochen haben, zu integrieren.

Nächste Entwicklungsschritte

Wenn ein Kind nun einzelne Wörter identifiziert hat, folgen zwei wichtige Schritte: Erstens muss es diese Lautpakete, die es gespeichert hat, auch mit Bedeutung versehen und zweitens muss es sie auch kategorisieren. Es muss also entscheiden, ob es gerade ein Nomen oder ein Verb gehört hat zum Beispiel. Prosodische Hinweise sind den Kindern im Deutschen aber kaum nützlich, weil hier Wortart und Wortbetonung nicht immer eindeutig zusammenhängen. Im Englischen wäre das schon einfacher. Dort werden Nomen in der Regel vorne, Verben meist hinten betont.

Was deutschsprachig aufwachsenden Kindern allerdings hilft, sind distributionelle Muster. Das heißt die Kinder lernen, dass bestimmte Wortarten in einer bestimmten Umgebung häufiger vorkommen. Nomen tauchen zum Beispiel sehr häufig nach Artikeln auf. Gut untersuchen lassen sich solche Strategien in etwa über Pseudowörter. Das heißt man präsentiert den Kindern Kunstwörter, also Wörter, die nicht in ihrer Muttersprache vorkommen, und zwar in Form eines Nomens, dem man einen Artikel voranstellt, zum Beispiel der Pronk. Danach überprüft man, wie die Kinder auf dieses neue Wort reagieren, wenn es als Nomen in einem Satz verwendet wird: der Pronk lag auf der Wiese, oder als Verb: der Förster pronk auf der Lichtung. In der Studie, die ich hier zitiere, ist das über die sogenannte Kopfdrehmethode gemacht werden. Das heißt es wurde die Zeit gemessen, die das Kind braucht, um seinen oder ihren Kopf in die Richtung zu drehen, aus der der besagt Satz kommt. Mit dieser Methode konnte nachgewiesen werden, dass Kinder ab ca. 16 Monaten den Artikel vor Pronk nutzen, um den Pronk nach einer Vorbereitungsphase, in der sie mit dem neuen Wort familiarisiert wurden, in dem Satz, den sie zu hören bekommen, auch als Nomen zu identifizieren.

Bei Verben, hat sich allerdings herausgestellt, dass solche distributionellen Hinweise weniger hilfreich sind. Verben werden weniger stark mit Pronomen oder Flexionsendungen zum Beispiel verbunden als Nomen mit Artikeln. Man geht davon aus, dass vielleicht pragmatische Faktoren eine größere Rolle spielen, wenn es darum geht, Wörter in die Kategorie Verben einzuordnen.

Neuronale Verarbeitung von Sprache

Neben diesen Verhaltensbeobachtungen gibt es mittlerweile auch eine ganze Reihe an Ergebnissen bildgebender Verfahren, mit denen die Prozesse in kindlichen Gehirn dargestellt werden können, die ablaufen, während sie sprachliche Stimuli verarbeiten. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das kindliche Gehirn in den ersten drei Lebensjahren ähnlich auf diese Stimuli reagiert wie das erwachsene. Ein Kind zeigt bei der Verarbeitung prosodischer, lexikalischer, semantischer und syntaktischer Informationen keine wesentlich andere Abfolge als erwachsene Probanden. Allein die Geschwindigkeit, mit der diese Reaktionen ablaufen, ist bei ihnen noch etwas geringer. Doch auf die Einzelheiten des Spracherwerbs in all diesen Sprachbereichen werden wir in kommenden Beiträgen eingehen.

Motherese oder: das Mutterische

Vielleicht nur eines noch zum Schluss für heute: Immer wenn es in der Spracherwerbsforschung heutzutage um sehr grundlegende Fähigkeiten geht, wie eben jene, die hier durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden können, wird mittlerweile aber auch vermehrt auf das Sprachangebot aus der Umgebung hingewiesen. Gerade wenn es um prosodische und distributionelle Hinweise geht, fällt oft der Begriff motherese (Deutsch: Mutterisch, Ammensprache). Also eine besonders kindgerechte Sprechweise, die sich vorrangig durch klare Betonungsmuster, längere Pausen und einen gewissen “Singsang” in der Stimme auszeichnet. Es handle sich dabei um eine Sprechweise, die die Sensibilität der Kinder für Prosodie, Pausenstruktur und Verteilungsmerkmale zusätzlich unterstützen würde. Da aber nicht in allen Kulturen in dieser Weise mit Kindern gesprochen wird, ist die Bedeutung des Mutterischen für die Entwicklung der heute besprochenen Fähigkeiten allerdings umstritten.

Zusammenfassung

Was können wir also aus diesem ersten Abschnitt mitnehmen: Wir haben gehört, dass Kinder schon im ersten Lebensjahr, und zwar noch lang bevor sie selbst ihr erstes Wort sprechen, über höchst effiziente Mechanismen verfügen, die es ihnen erlauben, genau jene Merkmale der Umgebungssprache zu erfassen, die ihnen zur Verarbeitung des Sprachangebots und zur Erweiterung ihres sprachlichen Wissens dienlich sind. Prosodische Merkmale natürlich, und zwar schon ganz früh, aber dann auch segmentale und distributionelle Eigenschaften (Konstantencluster, hochfrequente Wörter usw.). Das alles lässt sich sowohl über Verhaltensbeobachtungen als auch über bildgebende Verfahren erforschen.

Viele Spracherwerbsforscher·innen gehen davon aus, dass es sich bei den Fähigkeiten, die wir heute angesprochen haben, um sogenannte Prädispositionen handelt, spezifische Veranlagungen, die entweder angeboren sind oder sehr früh ausgebildet werden. Diese würden die Aufmerksamkeit des Kindes auf jene Merkmale des Sprachangebots lenken, die sie in bestimmten Entwicklungsphasen vorrangig verarbeiten können.

Weiterführende Links:

  • Im ihrem Einführungsband (2012) zum kindlichen Spracherwerb im Deutschen geht Christina Kauschke auf Verläufe, Forschungsmethoden und Erklärungsansätze ein.
  • Höhle et al. (2004) zeigen in dieser Studie, welche Rolle Artikel bei der Kategorisierung lexikalischer Elemente spielen („Pronk-Experiment“).