Da du gerade dabei bist, die Bedeutung hinter diesen Buchstaben zu entziffern, gehe ich davon aus, dass du ziemlich wahrscheinlich lesen, und vielleicht sogar auch schreiben, kannst. Du hast den Leseprozess, den du in genau diesem Moment durchläufst, soweit automatisiert, dass es dir im Regelfall gar nicht mehr (oft) auffällt, dass das vor deinen Augen liegende Schriftbild in Wahrheit aus einzelnen Buchstaben besteht. Doch wie gelingt uns diese Automatisation?

Wie werden Kinder zu kompetenten Leser·innen? Diese Frage wollen wir im Folgenden erörtern.


Dieser Beitrag ist Teil der Themenreihe Schriftsprachentwicklung im (Vor-)Schulalter. Dieser Reihe fokussiert ausgewählte Aspekte dieser Entwicklung, die als theoretisch fundierte Basis für die Förderung des frühen Schriftspracherwerbs bei Leseanfänger·innen dienen sollen. In der Einführung geht es darum, was Schriftsprachentwicklung bedeutet, und um die frühen Erfahrungen von Kindern mit Schrift. Die Reihe wird laufend ergänzt.

Dieser Beitrag widmet sich dem Verlauf der Sprachentwicklung im engeren Sinne. Welche typischen Verläufe lassen sich im Erwerbsverlauf beobachten? Wie geht man produktiv mit „Fehlern“ um? Und was zählt in diesem Verlauf überhaupt als Fehler?


Überschrift

Der Schriftspracherwerb ist nicht nur aufgrund individueller Faktoren, sondern auch aufgrund unterschiedlich ausgeprägter Lese- und Schreibsozialisationen von Kind zu Kind verschieden. Trotzdem ist der Erwerb der Schriftsprache — wie auch der Spracherwerb im Allgemeinen — als Entwicklungsprozess zu betrachten, in dem trotz punktueller Unterschiede in der Gewichtung einzelner Entwicklungsschritte gewisse grundlegende Phasen identifizierbar sind. Viele Verlaufsmodelle heute beziehen sich auf das (für das Englische) entwickelte Modell von Uta Frith (1986).

Auch ich möchte dieses Modell heute als Grundlage für die Beschreibung des Schriftspracherwerbs verwenden. Ich werde das von Frith vorgeschlagene Stufenmodell durch (auf das Deutsche bezogene) Erweiterungen von Renate Valtin (1997) und des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM, 2010) ergänzen.

3 Strategien im Schriftspracherwerb

In allem der Modelle, auf die ich mich heute beziehe, werden Lese- und Schreibfähigkeiten als miteinander verknüpft betrachtet. Nicht nur spielt das selbstständige Schreiben bei vielen Kindern eine wichtige Rolle beim Einstieg in die Welt der Buchstaben. Auch im Verlauf der Entwicklung beeinflussen sich die beiden Fähigkeiten gegenseitig.

“Der Erwerb der Schriftsprache wird als ein lange vor der Schulzeit einsetzender kontinuierlicher Prozess einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Lese- und Schreibpraxis gesehen.” (LISUM 2010)

Das älteste der drei oben erwähnten Modelle ist jenes von Uta Frith. Diese geht davon aus, dass sich der Schriftspracherwerb als Abfolge von Entwicklungsstufen darstellen lasse. Sie teilt den Entwicklungsprozess in drei unterschiedliche Stufen/Phasen ein, denen sie typische Strategien zuordnet:

  • logographemische Phase
  • alphabetische Phase
  • orthografische Phase

In der ersten, logographemischen Phase können Kinder Laute und Buchstaben noch nicht in Beziehung setzen. Sie orientieren sich an dem Aussehen der Buchstaben, am markanten Merkmalen. Sie können Geschriebenes/Gelesenes noch nicht lautlich analysieren.

Erst mit der alphabetischen Strategie erkennen Kinder nach und nach die Beziehung zwischen Lauten und Buchstaben. Dabei richten sie sich allerdings in erster Linie nach der eigenen Aussprache. Sie schreiben in sogenannter“Lautschrift”. Lesen und Schreiben unterstützen sich in dieser Phase gegenseitig.

Zu Beginn der letzten, orthographischen Phase können Kinder oft schon gut lesen. Sie haben erkannt, dass Schriftsprache orthographischen Regeln unterliegt (und man nicht immer schreiben darf, wie man spricht). Dadurch kommt es aber auch zu Übergeneralisierungen.

Die von Frith vorgeschlagenen Stufen werden jedoch von Kind zu Kind unterschiedlich intensiv durchlaufen. Außerdem werden die Phasen zwar nacheinander durchlaufen, dabei aber nicht “abgearbeitet”. Das heißt Kinder auf einer höheren Stufe greifen durchaus noch auf früher erlernte Strategien zurück, sollte eine neu erworbene Strategie einmal nicht ausreichen.

Erweitertes Erwerbsmodell

Ausgehend von diesem groben dreistufigen Modell unterscheidet Renate Valtin nun sechs Stufen des Lesen- und Schreibenlernens. Sie ergänzt das Modell um eine Vorstufe, differenziert auf der logographemischen Stufe und schreibt auch der Automatisierung von Schreib- und Leseprozessen am Ende der Entwicklung eine wichtige Rolle zu. Das LISUM schließlich geht von vier Phasen (drei Stufen und einer Vorstufe) aus. Zusammengenommen ergibt sich daraus folgendes — natürlich sehr vereinfachtes — Bild:

Präliterale Stufe

In einer ersten, präliteralen Phase (Vorstufe) beginnen Kinder sowohl Lese- als auch Schreibverhalten, das sie in ihrem Umfeld beobachten, zunächst zu imitieren. Sie kritzeln aufs Papier und tun so, als ob sie schreiben würden. Eine Schreibstrategie im engeren Sinne fehlt ihnen allerdings noch. Beim Lesen kann ähnliches Verhalten beobachtet werden. Kinder “lesen” bekannte Geschichten “aus dem Gedächtnis” vor, das Buch in der Hand, wenn in dieser Phase auch oft noch verkehrtherum.

Logographemische Stufe I

Manche Kinder werden bereits vor dem Schuleintritt zu Hause für den Aufbau und die Funktion von Schriftsprache sensibilisiert. Diese Kinder befinden sich mit dem Schuleintritt also schon auf der zweiten, logographemischen Stufe.

In dieser zweiten Phase können Kinder meist schon einzelne Buchstaben oder Wörter aus dem Gedächtnis notieren. Meist handelt es sich dabei um ihren eigenen Namen. Valtin spricht in diesem Zusammenhang auch vom “Malen” des eigenen Namens, da es den Kindern in dieser Phase oft noch nicht möglich ist, Laute bestimmten Buchstaben konkret zuzuordnen, sie einzelne Buchstaben aber schon anhand besonderer Merkmale erkennen können. Ähnliches gilt für das Lesen. Die Kinder erkennen Wörter bereits anhand ihres Wortbildes (Ganzwortlesen), können aber noch nicht “Buchstabe für Buchstabe” lesen. Ein Hinweis darauf, dass sich Kinder in dieser Phase befinden ist oft das “Erlesen” von Firmennamen oder -logos oder anderen visuell markanten Aufschriften.

Logographemische Stufe I

In der nächsten (immer noch logographemischen) Phase beginnen Kinder, Buchstaben und Laute, die sie bereits kennengelernt haben, miteinander in Beziehung zu setzen. Beim Lesen konzentrieren sie sich meist noch auf den Anfangsbuchstaben und sind — vor allem bei längeren Wörtern — noch stark auf den Kontext angewiesen.

Alphabetische Stufe

Später sind Kinder dann auch in der Lage, Wörter buchstabenweise zu erlesen. Oft ist hier von “lautieren” die Rede. Manchmal kann der Sinn des Gelesenen noch nicht erschlossen werden, weil der Leseprozess an sich noch die komplette Aufmerksamkeit des Kindes in Anspruch nimmt. Das LISUM spricht hier von einer alphabetischen Strategie. Dazu gehört anfangs unter anderem auch die Skelettschreibung, bei der nur der erste und letzte Laut eines Wortes verschriftlicht werden (FT für Fahrrad). Nach und nach werden immer mehr Laute niedergeschrieben, oft noch nach dem phonetischen Prinzip (“Schreib, wie du sprichst”: Farat für Fahrrad).

Ortographische Stufe

Erst wenn Kinder diese Entwicklungsphasen durchlaufen haben, ist es ihnen möglich, komplexere orthographische Elemente (Großschreibung, Doppelkonsonanten, Umlaute, -en/-er am Wortende usw.) zu verwenden, wobei es hier noch zu Übergeneralisierungen kommen kann (Oper statt Opa). Die Kinder berücksichtigen nach und nach orthographische Regeln und wenden ihr Wissen über Wortstrukturen (Doppelkonsonanten, Vor- und Nachsilben, Groß- und Kleinschreibung usw.) an. Diese orthographische Strategie führt beim Lesen dazu, dass größere Segmente wie mehrgliedrige Schriftzeichen (, , , usw.) Silben und Wörter (nicht mehr nur einzelne Buchstaben) erfasst werden können.

Automatisierung von Teilprozessen

Schließlich gelingt es Kindern, Teilprozesse sogar zu automatisieren. Dies stellt bei Valtin die letzte Phase des Schriftspracherwerbs dar. Auch das LISUM führt dieses Phase als dritte und letzte Stufe bei der Aneignung von Schriftsprachstrategien an. Die Kinder besitzen auf dieser Stufe umfangreiche Rechtsschreibkenntnisse beim Schreiben und erkennen Wörter beim Lesen automatisch. Dadurch ist es ihnen schließlich möglich, nicht nur flüssig, sondern zugleich auch Sinn entsprechend zu lesen.

Erkenntniswert von Stufenmodellen

Ich habe mich in der vorangehenden Darstellung des Entwicklungsverlaufs hin zur selbstständigen Verwendung von Schriftsprache an klassischen Modellen orientiert (Valtin, Frith, LISUM), die sich der Metapher der Stufe bedienen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Schriftspracherwerb nicht als ein Fortschreiten von einer Stufe in die nächste verstanden werden darf. Die hier in diesem Beitrag nachgezeichnete Stufenleiter sollte auch nicht als zwingender und vorgegebener Weg für alle Kinder gelten. Im Gegenteil, es gibt Kinder, die Stufen überspringen oder für eine längere Zeit auf ein und derselben Stufe verharren. Ergebnisse neuerer Forschung lassen zwar die Modellierung typischer Verlaufsformen als Stufen oder Phasen zu, deuten aber auch darauf hin, dass sich individuelle Erwerbsprozesse hinsichtlich der Dauer, der Ausprägung und der mit diesen Prozessen verbundenen Schwierigkeiten ergeben können. (vgl. Jeuk/Schäfer 2021, S. 75)

Auch der Begriff Phase führt in diesem Zusammenhang unter Umständen zu Missverständnissen. Die oben vorgestellten Lese- und Schreibstrategien beschränken sich nicht auf eine (einzige) zeitlich begrenzte Phase. Viel eher entwickeln Kinder gewisse Strategien in einer bestimmten Phase, geben aber dadurch nicht zwingend früher erlernte Strategien auf. Die Entwicklungsstufen lösen sich also nicht nacheinander ab, sondern greifen ineinander über.

Als Perspektive auf die für die einzelnen Stufen/Phasen genannten Prozesse bietet sich ein gebrauchsorientierter Ansatz (Dehn/Hüttis-Graff 2007) an: Es ist viel eher so, dass sich Kinder im Erwerbsverlauf zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bestimmte Strategien aneignen, die aufeinander aufbauen und einander ergänzen, und die es ihnen ermöglichen, zu einem gegebenen Zeitpunkt auf Schriftsprache „zuzugreifen, sie zu verarbeiten und zu produzieren. Insofern handelt es sich bei den angegebenen Stufen um nicht näher definierte Phasen, in denen die Kinder jeweils unterschiedliche Strategien bevorzugt (!) einsetzen.

Eine besonders wichtige Erkenntnis, die aus Stufenmodellen zum Schriftspracherwerb trotz dieser Einwände gewonnen werden kann, ist die Würdigung von Formen, die von der Erwachsenenschrift abweichen, als integrativer Bestandteil des Erwerbsprozesses. Anstatt defizitorientiert von “Fehlern” zu sprechen, zeigen Stufenmodell auf, wie “Fehler”produktiv als Lernchance betrachtet werden können. Durch die Beobachtung der kindlichen Lese- und Schreibmuster, können Rückschlüsse auf die jeweils dominante Strategie gemacht werden. Anhand dieser Rückschlüsse können Kinder schließlich individuell gefördert und erfolgreich in die “Zone der nächsten Entwicklung” (Vygotsky) begleitet werden.

Dass “Fehler” nicht immer einen Rückschritt bedeuten, sondern zu manchen Zeitpunkten sogar als Fortschritt zu werten sind, zeigt folgendes Beispiel zum Rechtschreiben:

Das Wort Kinderwagen wird zu Beginn der alphabetischen Stufe häufig noch in Skelettschreibung und Großbuchstaben realisiert, z. B. KNDW. Geht das Kind im Anschluss zum Verschriften der eigenen Sprechweise über, schreibt es das Wort “wie es ausgesprochen wird”, z. B. KiNdawaGn. Da Wortendungen auf -er meist als a-Schwa ausgesprochen werden und Endungen (meist e) häufig verschluckt werden, hat das Kind hier theoretisch alles verschriftlicht, was es hören kann. Bald darauf kann es das Wort aber auch schon nach der “Erwachsenenschreibung” zu Papier bringen, Kinderwagen. Das Kind hat damit jedoch noch nicht das Ende der Entwicklung erreicht. Wendet es nach und nach verstärkt die orthographische Strategie an, schleichen sich plötzlich wieder “Fehler” in das zuvor bereits “richtig” geschriebene Wort, z. B. Kienderwagen. Dabei handelt es sich jedoch um keinen Rückschritt in der Entwicklung, sondern um einen ganz wesentlichen Fortschritt. Das Kind hat beim Lesen oder Beobachten, wie andere schreiben, entdeckt, dass das I manchmal auch als realisiert wird, und testet diese orthographische Besonderheit nun aus. Wird das Kind weiterhin dazu ermutigt, die neu entdeckten orthographischen Elemente auszuprobieren, wird es nach einiger Zeit wieder zu “ursprünglichen” Schreibung: Kinderwagen gelangen.

Fazit

Die Entwicklung, die ich versucht habe, in diesem Beitrag nachzuzeichnen, folgt im Großen und Ganzen einem typischen Verlauf, ist aber in ihrer konkreten Ausführung aufgrund von mehreren Faktoren (Vorerfahrungen der Kinder, Lernumgebung, sozio-ökonomische Faktoren, emotionale und motivationale Prozesse usw.) sehr individuell. Das ist typisch für Versuche, Erwerbsprozesse zu modellieren; egal ob wir die Beobachtungen in Stufen, Phasen oder Fertigkeiten einteilen.

Stufenmodelle wie die von Uta Frith, Renate Valtin u. a. können jedoch zu einer wertschätzenden Lernkultur beitragen, in der es Kindern ausdrücklich erlaubt ist, “Fehler” zu machen und diese als Grundlage für weitere Lernschritte zu verwenden.

All diese Erfahrungen und Einsichten sind den Kindern selbst nicht bewusst. Unsere Aufgabe als Pädagog·innen, Eltern und Bezugspersonen ist es, Voraussetzungen zu schaffen, damit Kinder möglichst umfangreiche und vielfältige Erfahrungen mit Schrift sammeln können und es ihnen ermöglichen, lesend und schreibend Schreibregeln zu entdecken sowie auch selbst zu entwickeln.

An diesem Punkt tut sich nun die Frage auf: Was kommt denn nun zuerst? Das Lesen oder das Schreiben? Welches der beiden ist wichtiger? Auf diese und ähnliche Fragen werde ich im kommenden Beitrag dieser Serie eingehen.

Alle, die sich ein besseres Bild vom allgemeinen Verlauf des Schriftspracherwerbs machen wollen, können in der Zwischenzeit Teil Eins der Serie lesen. Dort geht es unter anderem um die allerersten frühkindlichen Erfahrungen mit Schrift und Schriftsprache.

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