Wir haben uns vor einiger Zeit im Einführungsbeitrag zu diesem Themenblock mit den durchaus erstaunlichen Sprachverarbeitungsfähigkeiten von Kindern beschäftigt. Diese sind, wie wir damals gehört haben, eine Voraussetzung dafür, dass eine Lautsprache überhaupt erwerben können. Allerdings haben wir uns beim letzten Mal nur rezeptive Fähigkeiten angeschaut. Eben wie deutschsprachige Kinder lautsprachlichen Input verarbeiten. Heute wird es um die produktive Seite in der lautlichen Entwicklung gehen.


Und bevor wir hier die wichtigsten Entwicklungsschritte nachzeichnen, noch etwas ganz Wichtiges: Wir sprechen heute über Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Die Autor·innen, auf die ich mich beziehe, verlinke ich wie immer unter dem Beitrag. Da es um Erwerbsprozesse geht, werden auch heute wieder Schritte, Stufen und Altersangaben fallen. Ich bin jedoch weder Ärztin noch Logopädin. Die heutige Zusammenfassung der lautlichen Entwicklung kann und sollte nicht als Diagnoseinstrument verwendet werden. Falls ihr euch Sorgen um die Entwicklung von einem oder eurem Kind macht, bitte wendet euch in jedem Fall an eine ausgebildete Fachkraft. Zur Diagnose von Sprachentwicklungsstörungen oder -verzögerungen ist viel mehr nötig, als nur theoretisches Fachwissen.


Die lautliche Entwicklung

Wenn wir von lautlicher Entwicklung sprechen, was meinen wir damit eigentlich? Die lautliche Entwicklung besteht einerseits aus der phonetischen Entwicklung und andererseits aus der phonologischen Entwicklung. Bei der phonetischen Entwicklung geht es darum, wie das Kind lernt, Laute zu bilden. Und bei der phonologischen Entwicklung schaut man sich an, wie es diese Laute dann in Wörtern verwendet. Hier ist dann der Kontext, in dem ein Laut produziert wird, wichtig. Wir werden heute zu beiden Bereichen etwas erfahren, allerdings werde ich einen Schwerpunkt auf den zweiten Bereich legen, also auf Phänomene, die auftreten, wenn Kinder Laute in konkreten Wörtern verwenden.

Doch bevor wir uns die kindliche Sprachentwicklung in Bezug auf Phonetik und Phonologie ansehen, werfen wir noch einmal einen kurzen Blick auf den Prosodieerwerb, der mit diesen beiden Bereichen eng zusammenhängt.

Prosodieerwerb

Bei der Prosodie geht es um die Melodie, den Rhythmus einer Sprache. Wir haben dazu im Einführungsbeitrag schon einiges gesagt, zumindest was die rezeptive Seite dieser Entwicklung angeht. Auf der praktisches Seite braucht das Kind aber nicht nur diese besondere und besonders frühe Sensitivität für prosodische Strukturen, über die wir letztes Mal gesprochen haben, sondern muss auch lernen, wie Silben- und Wortstrukturen aufgebaut sind, und in diesem Zusammenhang auch, wie man Silben auf einen Konsonanten enden lässt und wie man Konsonantencluster, also mehrere Konsonanten hintereinander, bildet. Es muss auch lernen, nach welchen phonotaktischen Regeln zielsprachliche Wörter, also in unserem Fall deutsche Wörter, aufgebaut sind, das heißt wie sich und welche Laute zu Silben kombiniert werden können. Außerdem muss es noch lernen, wie Wörter allgemein betont werden und schließlich auch noch den Tonhöhenverlauf von ganzen Sätzen, also die Satzmelodie. Also nicht so ohne, das Ganze.

Nehmen wir die Betonung als Beispiel. Bei der Betonung von Wörtern und Äußerungen geht es darum, sprachliche Einheiten im Kontrast zu anderen sprachlichen Einheiten hervorzuheben. Soweit so gut. Das machen wir in erster Linie durch Tonhöhe, Lautstärke, Pausen und die Länge von Vokalen. Dabei haben wir im Deutschen eine Abfolge von betonter Silbe—unbetonter Silben (Trochäus). Das klingt dann wie Hase, Auto, Juli. Die umgekehrte Abfolge (unbetont—betont) kommt im Deutschen zwar seltener vor, aber auch. Das heißt, das Kind muss erst einmal lernen, dass die meisten einfachen Wörter auf Deutsch auf der vorletzten Silbe betont sind, dass es aber auch andere Betonungsmuster gibt.

Und ich sage absichtlich vorletzte Silbe — und nicht erste —, weil wir im Deutschen auch sehr viele Präfixe (Vorsilben) haben, die sehr oft nicht betont sind. Zum Beispiel gehören, besprechen, Gerede. Da folgt eben immer einer unbetonten Vorsilbe (ge-, be-, Ge-) eine betonte Silbe im Stamm des Wortes, auf die dann eben wieder eine unbetonte folgt, also eben die Infinitivendung -en bei gehören und besprechen, oder der vollkommen unbetonte Schwa-Laut [⁠ə⁠] am Ende von Gerede.

Was im Deutschen allerdings auch immer mitgedacht werden muss, ist, dass wir — und dafür sind wir ja bekannt — nicht nur einfache Wörter haben sozusagen, sondern auch zusammengesetzte Wörter, sogenannte Komposita. Auch für diese sind Extraregeln zu lernen. Wie zum Beispiel, dass der Hauptakzent, also die stärkste Betonung, in den allermeisten Fällen auf dem linken Wortteil liegt, die rechte aber einen sogenannten Nebenakzent trägt. Das heißt, wenn wir ein Kompositum mit zwei Wörter betrachten, zum Beispiel Puppen|wagen, dann liegt die Betonung zwar auf Pup-, aber das wa- von |wagen ist immer noch stärker betont als das -pen aus Puppen|.

Man geht davon aus, dass ein Kind mit ungefähr 8 Monaten das deutsche Betonungsmuster, also den typischen Trochäus (betont—unbetont), nicht nur erkannt hat, sondern auch in seinen oder ihren Babbeläußerungen imitiert. Und wenn dann nach und nach die ersten Wörter dazukommen, erfolgt der prosodische Erwerb in mehreren Schritten.

Kommen wir zum zweiten Bereich, über den wir heute sprechen wollen: die Phonetik.

Phonetische Fähigkeiten

Was die phonetische Entwicklung betrifft, also wenn es um die reine Lautproduktion ohne Wortkontext geht, lässt sich Folgendes beobachten: Das Kind engt das, was es produzieren kann  —  ähnlich wie es das schon bei der Wahrnehmung von Lauten gemacht hat —, nach und nach ein, um irgendwann bei den Lauten anzukommen, die für die Zielsprache relevant sind.

Eines vorweg: Die Fähigkeit zu sprechen, so wie wir es heute tun, unterscheidet uns als Homo sapiens von anderen Tieren, Säugetieren sowie Primaten. Damit meine ich nicht Sprache an sich, als Kommunikationsmittel — das wäre eine ganz andere Geschichte —, sondern die Fähigkeit, unseren Lautapparat so einzusetzen, dass Lautäußerungen, wie wir sie aus unseren menschlichen Sprachen kennen, überhaupt möglich sind. Das ist ein äußerst komplexer Prozess, an dem eine ganze Reihe an Sprechwerkzeugen beteiligt ist — angefangen bei der Zunge, über die Lippen, den Gaumen, bis hin zum Kehlkopf und so weiter. Diese Sprechwerkzeuge müssen extrem fein aufeinander abgestimmt sein.

Auch wenn diese Fähigkeit, dem Menschen angeboren zu sein scheint, kommen die Menschenbabys in dieser Hinsicht mit einem quasi anatomischen Handicap auf die Welt. Das heißt ihre Anatomie kurz nach der Geburt ist noch nicht optimal für die Lautbildung. Es fehlt ihnen, kurz gesagt, an Luftdruck beim Ausatmen, ihr Kehlkopf liegt zu hoch, die Zunge ist zu groß und sie haben keine Zähne, was auch nicht unwesentlich ist.

In einer allerersten Phase, die mit dem ersten Schrei nach der Geburt beginnt, verfügen Säuglinge über ein reiches stimmliches Ausdrucksrepertoire. Sie schreien, weinen, quengeln, jammern und meckern. Lachen und niesen und andere vegetative Laute werden allerdings nicht zu den sprachspezifischen Äußerungen gezählt. In diesem Stadium, dem sogenannten Phonationsstadium, ist der Sprechapparat wie gesagt, noch nicht optimal ausgereift, weshalb hier nur Vorläufer von Lauten möglich sind, die noch nicht eindeutig als Vokale oder Konsonanten gedeutet werden können.

Im zweiten Schritt — das ist dann in etwa mit 6 bis 8 Wochen — kommen Gurrlaute dazu, die im Rachen gebildet werden und so ähnlich wie Konsonanten klingen. Wenn das Kind dann ca. 3 Monate alt ist, beginnt es verstärkt mit der Stimme zu spielen. Es erweitert seine oder ihre stimmlichen und lautlichen Möglichkeiten und probiert einfach mal aus, was alles so geht: Lautstärke, Klangfarbe, Dauer, Rhythmus usw. Selbst Laute, die in der Muttersprache gar nicht vorkommen, probiert es aus.

In der nächsten Phase geht es dann ans Babbeln. Und hier spricht man tatsächlich von einem sogenannten Meilenstein in der frühen Sprachentwicklung, zumindest was das kanonische Babbeln angeht. Beim kanonischen Babbeln ist das Kind in der Lage, Silben zu produzieren, die aus mindestens einem Vokal und einem Konsonanten bestehen. Prinzipiell bevorzugen Kinder offene Silben (enden auf einen Vokal). In diesem Stadium richtet sich das Kind immer stärker auf die Umgebungssprache aus.

Für deutschsprachig aufwachsende Kinder bedeutet das, dass sie beim Babbeln oft Laute verwenden, die eher vorne im Mund gebildet werden, zum Beispiel [t] oder [b] oder [m]. Außerdem treten häufig sogenannte Plosive (Verschlusslaute). Plosive sind Laute, bei denen der Luftstrom zuerst teilweise oder sogar komplett blockiert wird, durch die Zunge oder die Lippen, das heißt die Luft kann weder durch die Nase, noch durch den Mund entweichen, und dann, plötzlich, wird diese Blockade quasi geöffnet und die Luft strömt so schnell nach draußen, dass sich der Laut, der dadurch entsteht, fast wie eine kleine Explosion anhört. Das passiert zum Beispiel bei [p] oder [t]. Später kommen dann Nasale (Nasenlaute) hinzu, also [m] oder [n], bei denen die Luft durch die Nase entweicht. Und erst am Schluss erwerben die Kinder die sogenannten Frikative  (Reibelaute) alles von [f], über [x], bis hin zu [s] oder [ʃ]. Das heißt man kann sich jetzt schon gut vorstellen, was diese Reibelaute genau ausmacht. Da wird eine Engstelle im Mund gebildet, wodurch die Luft, die nach draußen strömt, aufgewirbelt wird. Dadurch entsteht dieses besondere Reibegeräusch.

Im Laufe der Zeit wird das kindliche Babbeln immer elaborierter. Auf das sogenannte reduplizierende Babbeln, bei dem Silbenketten wie /dada/ entstehen können, folgt das variierende Babbeln, bei dem das Kind dann auch schon unterschiedliche Laute verwendet, wie bei /gata/. Das hat die Mimi bei uns zum Beispiel als erste variierende Silbenkette verwendet, die sie bereits auch mit Bedeutung gefüllt hat, nämlich Kater. Also unsere (männliche) Katze zu Hause rufen wir, wenn sie schlimm ist, nicht bei ihrem Namen, sondern Kater. Das machen wir — wer Katzen kennt, wird es verstehen — sehr oft machen. Kein Wunder also, dass die Mimi das so rasch aufgeschnappt hat.

Mit 10 Monaten etwa können auch längere Stränge gebabbelt werden, die von der Intonation her fast so klingen wie ein ganzer Satz in der Muttersprache, obwohl es natürlich keiner ist, und das Gebabbel natürlich auch noch nicht mit Bedeutung gefüllt ist. Ist ein Kind aber erst einmal an diesem Punkt angelangt, könnte und kann es theoretisch zur Wortproduktion übergehen.

Während dieser Babbelphasen trainiert das Kind jedoch nicht nur motorische Fähigkeiten, die beim Sprechen notwendig sind bzw. die prosodischen Muster, die es dafür braucht, sondern auch das Kommunizieren in einem viel weiteren Sinne.

In sogenannten Protokonversationen führen Kind und Bezugspersonen quasi erste Dialoge, gehen also lautlich aufeinander ein, um Gespräche nachzuspielen. Auf der Seite der Erwachsenen kann das natürlich auch „verständliche“ Sprache sein. Alle, die schon einmal mit Kindern zu tun hatten, wissen wahrscheinlich, was ich meine: Das Kind babbelt irgendwas daher  und als Erwachsene oder Erwachsener geht man ganz interessiert auf das Geäußerte ein, indem man darauf reagiert: Ja, wirklich, das hab ich ja gar nicht gewusst! oder indem man darauf antwortet: Nein, danke. Für mich heute nicht.

Ob sich dieser ganze Entwicklungsprozess, den ich gerade beschrieben habe, als zwei separate Stadien darstellen lässt, also einer ersten Babbelphase und einer darauf folgenden Phase der Wortproduktion, oder ob es sich um einen kontinuierlichen Prozess handelt, bei dem das Babbeln allmählich in die Wortproduktion übergeht, ist noch nicht eindeutig geklärt. Allerdings gibt es zwei Hinweise, die für Kontinuität sprechen: erstens, die Beobachtung, dass Kinder für ihre ersten Wörter hauptsächlich Laute verwenden, die sie auch schon beim Babbeln verwendet haben, und zweitens, dass Kinder auch nachdem sie die ersten Wörter gesprochen haben, eine Zeitlang weiterbabbeln.

Hat das Kind also erst einmal die Laute, die es zum Sprechen der Umgebungssprache braucht — und ein paar weitere mehr —, eine Weile ausprobiert, muss es diese schließlich miteinander kombinieren, damit es Bedeutung ausdrücken kann. Diese Kombination von Lauten ist auf Deutsch, wie in allen anderen Sprachen auch, systematisch, das heißt folgt bestimmten Regeln, die sich das Kind aneignen kann bzw. muss. Es bildet also seine phonologischen Fähigkeiten aus.

Phonologische Fähigkeiten

Im Grunde genommen heißt das, dass die phonologische Entwicklung, im Unterschied zur phonetischen, untrennbar verbunden ist mit der lexikalischen Entwicklung. Wie Kinder die Bedeutung von Wörtern lernen, wird Thema des nächsten Beitrags in dieser Serie sein. Heute werden wir uns mehr oder weniger nur mit der Form von Wörtern beschäftigen. Wir werden also sehen, welche Laute Kinder in ihren ersten Wörtern vorrangig verwenden — denn wir werden sehen, dass sich Beobachtungen dazu generalisieren lassen —, und wir werden sehen, wie sich ihr Phoneminventar mit der Zeit entwickelt. Wir werden uns auch kurz ansehen, wie sich die kindlichen Wortformen von jenen unterscheiden, die wir als Erwachsene produzieren, und — in groben Schritten zumindest — wie Kinder in unterschiedlichen Prozessen diese anfänglichen Unterschiede zur Erwachsenensprache abbauen.

Wenn Kinder anfangen, ihre ersten Wörter zu sprechen, also irgendwann zu Beginn des zweiten Lebensjahres, verfügen sie nur über ein elementares Lautinventar und die Silben, die sie produzieren sind entsprechend einfach gehalten, meist in der Form KV oder KVKV (K für Konsonant, V für Verb). Die Wörter sind meist kurz und auch nicht immer gleich ausgesprochen. Dadurch greifen Kinder in diesem Alter oft auch noch auf ein und dieselbe Lautfolge zurück, um mehrere Gegenstände oder Sachverhalte zu bezeichnen.

Spezifisch für diese Phase ist außerdem das Auslassen von unbetonten Vorsilben, also /nane/ für Banane, oder von Konsonanten am Wortende, also /foge/ statt Vogel. Außerdem produzieren Kinder hier auch noch viele einfachere Formen für Wörter, die sie noch nicht aussprechen können, zum Beispiel /vava/ für Hund. Wobei lautmalerische Äußerungen (z. B. Tierlaute) als vollwertige Wörter gezählt werden dürfen, wenn es darum geht, abzuschätzen, wie viele Wörter ein Kind bereits spricht.

Der Phonologieerwerb spielt eine ganz wichtige Rolle für den Wortschatzerwerb. Wenn das Kind lernt, neue Laute auszusprechen, kann es neue Kontraste setzen und dadurch neue Wörter in sein aktives Lexikon aufnehmen.

Allerdings ist es so, dass die ersten Wortformen meist noch holistisch gespeichert werden. Das bedeutet das Kind speichert die Lautkette als ganzheitliches Paket, ohne es notwendigerweise in einzelne Laute zu segmentieren. Manchmal klingt dann zwar die Betonung schon ganz “richtig”, die Aussprache an sich ist aber noch undeutlich. Manchmal allerdings entsprechen Wörter sogar schon am Anfang der korrekten Form in der Umgebungssprache. Das ist insofern interessant, als hier oft vermeintliche Rückschritte beobachtet werden.

Das liegt daran, dass mit etwa 18 Monaten ein Reoganisationsprozess beginnt, in dem das Kind anfängt, die Wörter Stück für Stücke (oder: Laut für Laut) zu verarbeiten, die es anfangs als Ganzes gespeichert hat. In diesem Stadium kommt es dann wieder zu Abweichungen von der Zielsprache, die manchmal als vermeintlicher Rückschritt interpretiert werden.

Man spricht hier von sogenannten phonologischen Prozessen, also systematischen Vereinfachungsprozessen. Das heißt das Kind verändert die zielsprachliche Wortform, indem es Laute entweder — grob gesagt — auslässt oder ersetzt.

Systematisch sind diese Prozesse, weil sie bei vielen Kindern auftreten und die Vereinfachungen, die die Kinder vornehmen, oft auch in immer derselben Reihenfolge wieder überwunden werden. Sie führen also zu einer charakteristischen kindlichen Aussprache, wobei natürlich auch — zwar seltener, aber doch — individuelle phonologische Prozesse beobachtet werden können.

Diesen Modifikationen, die das Kind vornimmt, um sich das zielsprachliche Lautinventar anzueignen, laufen auf drei Arten ab:

  1. Strukturprozesse: die Struktur von Silben oder Wörtern wird verändert
  2. Harmonisierungsprozesse: Vokale oder Konsonanten werden lautlich aneinander angepasset
  3. Substitutionsprozesse: Laute werden durch andere Laute ersetzt

Diese drei Prozesstypen können natürlich auch gleichzeitig in ein und demselben Wort wirksam werden. Vielleicht nur ein paar Beispiele, um das Ganze zu verdeutlichen.

Phonologische Prozesse

Also vielleicht zuerst zu den Strukturprozessen: Ganz typisch sind hier die Vereinfachung von mehrsilbigen Wörtern. Das passiert zum Beispiel beim Wort Schokolade, wenn es vom Kind als [lade] realisiert wird. Außerdem werden oft Silben verdoppelt. Die Mimi hat das vor ein paar Monaten sehr enthusiastisch gemacht, zum Beispiel bei Mandarine. Sie hat statt Mandarine immer /nini/ gesagt.

Was die Harmonisierungsprozesse angeht, also die Angleichung von Lauten, das kann zum Beispiel bei Vokalen passieren. Da muss ich wieder an die Mimi denken, die eine Phase gehabt hat (oder immer noch hat), in der sie nichts anderes essen wollte außer Käse, und zwar prinzipiell nur britischen Cheddar. Auf jeden Fall hat sie statt Käse immer nur /kəsə/ gesagt, also statt einem Vollvokal [e] und einem Schwa-Laut [ə], waren es bei immer zwei Schwa-Laute, [ə] und [ə]. Natürlich kann sich das auch auf Konsonanten beziehen, sowohl nach vorne oder nach hinten. Also es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder für Gabel entweder /babel/ oder /gagel/ sagen.

Bei Substitutionsprozessen geht es schließlich darum, dass einzelne Laute ausgetauscht werden, sie werden also substituiert. Auch hier nur ein Beispiel: Wir haben heute schon einmal über Frikative gesprochen, also über Reibelaute. Da haben wir gesagt, dass Kinder diese Laute erst später in der phonetischen Entwicklung produzieren lernen. In der Regel erst nach Plosiven wie [b] oder [t] oder Nasalen bzw. Labialen, also Lauten, die an den Lippen gebildet werden, wie [m] oder [v]. Das heißt Kinder ersetzen den schwierigen frikativen Laut s zum Beispiel häufig  durch einfachere Laut wie das t in /etn/ statt essen, oder das [v] in /vak/ statt /sak/.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, für das Deutsche, dass mit etwa dreieinhalb/vier Jahren sowohl alle Laute separat produziert werden können, als auch im Wort korrekt verwendet werden können. Ausnahmen bilden hier die Laute ts, [ʃ] und der [ç]-Laut, also das vordere deutsche , wie eben im Wort ich. Der [x]-Laut, also das hintere , fällt deutschsprachig aufwachsenden Kindern leichter. Das geht meist schon vor dem 3. Geburtstag.

Indem das Kind diese phonologischen Vereinfachungsprozesse nach und nach überwindet, passt es sein Lautinventar immer mehr an die Umgebungssprache an. Trotzdem kommen in diesem Prozess immer noch viele inkonsequenteWortformen vor, obwohl der Prozess als ein sehr systematischer beschrieben wird. Es werden also vor allem in der ersten Phase Wörter von ein und demselben Kind oft noch auf mehrere Arten realisiert, Elefant zum Beispiel als /fant/ oder auch als /edefant/. Erst dann ab ca. zweieinhalb Jahren wird die Wortproduktion phonologisch gesehen stabiler.

Die typischen phonologischen Prozesse, die ein Kind aufgeben muss, um zur zielsprachigen Aussprache zu gelangen, werden unter anderem bei Fox-Boyer dargestellt.

Konsonantenverbindungen

Schließlich muss das Kind dann aber noch lernen, wie es nicht nur Konsonanten und Vokale miteinander zu Wörtern kombiniert, sondern auch, wie es zwei oder mehrere Konsonanten miteinander verbindet. Sprachübergreifend hat man belegt, dass — genauso wie das auch bei einzelnen Konsonanten der Fall ist — Verbindungen mit Frikativen, also Reibelauten wie in Frosch zum Beispiel, später erworben werden als andere. Außerdem sind Verbindungen mit “nur” zwei Konsonanten (Brot), einfacher als solche mit drei (Strumpf).

Generell werden Konsonantenverbindungen anfangs komplett ausgelassen oder zumindest reduziert, sodass nur ein Laut statt mehrere produziert werden müssen. Das Kind sagt dann zum Beispiel [lume] oder [bume] für Blume. Danach werden zwar zwei Konsonanten (also zwei verschiedene Laute) ausgesprochen, allerdings wird einer davon mit einem “einfacheren” Konsonanten ersetzt. Statt Treppe dann zum Beispiel [krepe].

Deutschsprachig aufwachsende Kinder reduzieren Konsonantenverbindungen gern auf den ersten der beiden oder der drei Laute, also [dausen] statt draußen. Der Frosch aus dem Beispiel vorhin heißt bei uns zum Beispiel immer noch /fos/, ohne das r. Oder überhaupt einfach nur /kwa/, was wieder eine ganz andere Strategie ist.

Außerdem erwerben Kinder mit deutscher Umgebungssprache Konsonantencluster am Wortende früher als solche am Wortanfang. Was insofern eine wichtige Beobachtung ist, als Konsonantenverbindung am Ende von Wörtern wichtig sind, wenn es um (konjugierte) Verben geht, wie ich spreche, du sprichst, sie spricht.

Aber alles, was mit Wortformen zu tun hat, also alles, was notwendig ist, um Wörter so abzuwandeln, dass wir mit ihnen längere Aussagen machen können (z. B. Sätze), wird erst in einem der kommenden Beiträge Thema sein.

Zusammenfassung

Was können wir also von heute mitnehmen: Wir haben gehört, dass die wichtigen Eckpfeiler der phonologischen Entwicklung erst einmal natürlich der Erwerb aller zielsprachlicher Phoneme sind, dann auch die Überwindung phonologischer Prozesse, “Vereinfachungsprozesse”, und das allmähliche Verschwinden von inkonsistenten Wortformen, sowie schließlich auch das Wissen darum, wie man Konsonantenverbindungen ausspricht.

Die Prozesse, Altersangaben und Abläufe, über die wir heute gesprochen haben, reichen, wie gesagt, allein nicht aus, um eine Sprachentwicklungsstörung oder -verzögerung zu diagnostizieren. Denn zur Diagnose von Aussprachestörungen, denn heute ging es ja im Grund “nur” um die Aussprache, ist sehr viel mehr Kontext nötig, als nur theoretisches Fachwissen. Also bitte lasst Zweifel bei einer Logopädin oder einer anderen Fachkraft abklären.

Was trotzdem bleibt, ist, dass der kindliche Spracherwerb im Bereich der Phonetik und Phonologie in mehr oder weniger geordneten Bahnen abläuft. Kinder haben durchaus einen ungefähren Plan davon, was ihnen hilft, ihre Umgebungssprachen zu lernen. Ob die “Vereinfachungen”, die dieser Plan vorsieht, als Vermeidungsstrategien zu werten sind, oder anders gesagt: ob Kinder die korrekte Form der Erwachsenensprache zwar gespeichert haben, aber nur noch nicht richtig aussprechen können und deswegen eben “vereinfachen”, das ist in der Theoriebildung zum kindlichen Spracherwerb noch umstritten. Auch wenn es aufgrund seiner Systematik den Anschein hat, so sind alle Lauterwerbsprozesse, die wir heute besprochen haben, nur als Beschreibungen von Entwicklungsprozessen zu werten, und nicht als angeborener Mechanismus.

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Tabellen

  • Die versprochenen Tabellen mit deiner ausführlichen Auflistung zur Entwicklung des Lautinventars im Deutschen und zur Überwindung der phonologischen Prozesse könnt ihr hier herunterladen.