Doing Gender.

Männer. Frauen. Stimme.

Unsere Stimme ist ein Teil von uns. Sie kommt förmlich aus unserem Bauch heraus. Doch was, wenn der Klang unserer Stimme nicht angeboren ist, sondern dadurch beeinflusst wird, wo wir leben und wie wir unser Leben gestalten (können)?

Frauen und Männer klingen anders. Das wissen wir. Im Biologieunterricht lernen wir, dass Buben in der Pubertät in den sogenannten Stimmbruch kommen. Das liegt am Testosteron. Ihr Kehlkopf wächst schneller als bei Mädchen, die Prominentia laryngea wird von außen deutlich sichtbar. Dieser obere Teil des Kehlkopfes wird in der Alltagssprache bezeichnenderweise Adamsapfel genannt.

Mit dem Kehlkopf wachsen auch die Stimmbänder. Das führt zu langsameren Schwingungen. Dadurch verändert sich der Klang ihrer Stimme. Sie wird dunkler. Männer sprechen also tief, Frauen hoch. Wie gesagt: Frauen und Männer klingen anders. Das wissen wir. Und die Biologie ist dafür verantwortlich. Oder etwa nicht?

So einfach ist die Sache tatsächlich nicht. Menschen in anderen Ländern sprechen mit höheren, tieferen, feineren, lauteren Stimmen als hier in Mitteleuropa. Ihre Stimmen sind vielleicht bewegter oder monotoner. Sogar bei ein und derselben Person lassen sich Unterschiede in der Tonhöhe feststellen, wenn sie von einer Sprache in eine andere wechselt. Mehr noch: Nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern auch unterschiedliche Dialekte ein und derselben Sprache führen zu einem anderen Klang. Und: Auch die Zeit, in der wir leben, hat einen Einfluss darauf, wie unsere Stimmen klingen. Aber dazu kommen wir noch.

Stimme im Alltag

Wenn also die Menschen so unterschiedlich klingen, wenn sogar ein und derselbe Mensch unterschiedlich klingen kann, kann für diese Unterschiede nicht mehr nur die Biologie verantwortlich gemacht werden. Wir können das an uns selbst in der Interaktion mit anderen beobachten.

Wir schätzen unser Gegenüber normalerweise in einem Sekundenbruchteil ein. Wir halten ihn oder sie für seriös, kompetent und vertrauenswürdig, emotional, unsicher oder impulsiv. Die Stimme spielt bei dieser Einschätzung eine äußerst wichtige Rolle. Sie ist bei dieser Entscheidung wichtiger als der Inhalt des Gesagten. Bestimmte Tonlagen oder Eigenschaften einer Stimme werden mit bestimmten Eigenschaften einer Person assoziiert. Tiefe, monotonere Stimmen lassen Menschen kompetent wirken. Hohe, bewegte Stimmen erinnern uns an kindlicheSprechweisen und strahlen deutlich weniger Seriosität aus. Die Stimme ist für uns also ein wichtiger Hinweis darauf, ob wir einer Person vertrauen oder nicht.

Wie zentral unsere Stimme für uns ist, zeigt sich in unzähligen Redewendungen: Wir erheben unsere Stimme. Wir verlieren unsere Stimme. Wir haben sogar eine innere Stimme. Eine Stimme des Herzens. Eine Stimme des Gewissens. Wir geben sie anderen, unsere Stimme. All diese sprachlichen Bilder verankern unsere Stimme tief in unseren Körpern. Der Verlust unserer Stimme wird als Bedrohung gesehen. Durch das Abgeben unserer Stimme zeigen wir Vertrauen. Unsere Stimme ist ein Teil von uns, sie gehört uns.

Aber tut sie das wirklich? Gehört unsere Stimme zu unserem Körper wie unsere Arme, unsere Beine oder unser Kopf? Sie kommt ja förmlich aus dem Bauch heraus. Doch diese Körpernähe täuscht. Genauso wie auch Gestik und Mimik, entwickeln sich Stimmen im Laufe des Lebens.

Unsere Stimme wird uns nicht in die Wiege gelegt

Natürlich haben Männer aufgrund ihrer Kehlkopfentwicklung andere “natürliche” Voraussetzungen. Ihre sogenannte Stimmgrundfrequenz liegt bei nur ca. 100 Hertz. Das heißt ihre Stimmritze öffnet und schließt sich etwa 100 Mal pro Sekunde. Die Stimmgrundfrequenz von Frauen liegt bei etwa 170 Hertz. Bei ihnen schließt und öffnet sich die Stimmritze also deutlich öfter. (Moosmüller 2002, zit. n. Kotthoff/Nübling 2018)

Dabei überschneiden sich die individuellen Tonhöhenspektren in der Regel aber sehr stark. Wenn Männer eine etwas höhere Grundfrequenz haben, klingen sie wie Frauen, die eine etwas niedrigere Grundfrequenz haben und umgekehrt. Dieser Überschneidungsbereich beträgt jeweils 50%. Das heißt das höhere männliche Stimmspektrum ist gleichzeitig das niedrigere weibliche.

Und dennoch: Frauen sprechen häufig höher als sie es natürlicherweise machen würden. Männer hingegen tiefer. Wir beobachten also, dass sich Männer und Frauen stimmlich mit Absicht voneinander abgrenzen, indem sie sich in jenen Tonhöhenbereich zurückziehen, der sich nicht mit dem jeweils anderen Geschlecht überschneidet. Und das wird nicht durch unseren Körper und unsere anatomischen Voraussetzungen bestimmt, sondern von unserem Umfeld. Die Gründe für dieses Verhalten liegen darin, wie hohe und tiefe Stimmlagen gesellschaftlich und kulturell bewertet werden.

Unsere Stimme wird uns nicht in die Wiege gelegt.

Ja, das unterschiedlich starke Wachstum unserer Kehlköpfe führt nach der Pubertät zu unterschiedlichen Stimmgrundfrequenzen. Doch in welchem Bereich wir uns in unserem individuellen Tonhöhenspektrum bewegen, hängt von der Gesellschaft ab, in der wir uns bewegen, und vom Frauen- und Männerbild, das in dieser Gesellschaft vorherrscht.

Frauenstimmen weltweit

Das zeigen zum Beispiel Studien, die die Stimmen von Frauen aus unterschiedlichen Ländern vergleichen. Von den in den 1990er Jahren untersuchten Frauen hatten Japanerinnen mit 225 Hertz die höchste Stimmgrundfrequenz. Schwedinnen und Niederländerinnen lagen mit 196 bzw. sogar nur 191 Hertz weit darunter.

Hoch zu sprechen, wirkt in Japan attraktiv. Eine hohe Stimmlage entspricht einem ganz bestimmten japanischen Schönheitsideal. Die tieferen Stimmlagen in Skandinavien hingegen — und zwar nicht nur im Gegensatz zu Japan, sondern auch zu anderen untersuchten Ländern wie Spanien oder den USA — könnten auf die zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter in Nordeuropa zurückzuführen sein. Ein Projekt, das zwar in keinem Staat der Erde abgeschlossen ist, auch heute noch nicht, aber eines, in dem die skandinavischen Länder mit Sicherheit Vorreiter sind.

Dass unsere Stimme mehr konstruiert ist als angeboren, zeigt sich auch in der Musik.

Wahnsinn und Hysterie in der Musik

Auch hier werden Stimmen heute nach Geschlecht eingeteilt. Dadurch entsteht der Eindruck, als wären Männer- und Frauenstimmen grundsätzlich verschieden. Der bereits erwähnte — und beträchtliche — Überschneidungsbereich wird ignoriert.

Das war allerdings nicht immer so. Sowohl tiefe als auch hohe Stimmlagen wurden lange Zeit nur von Männern gesungen. Frauen durften in der Kirche und im Theater schließlich nicht auftreten. Tiefe Stimmen verkörperten entweder niedrige Stände oder Personen im hohen Alter. Hohe hingegen das Göttliche, Status oder Jugend. Mit dem Geschlecht hatte das noch nichts zu tun.

Erst ab dem 19. Jahrhundert wird die Stimme genderisiert, wie man in der Wissenschaft sagt. Bass, Bariton und Tenor werden männlich, Alt, Mezzosopran und Sopran werden weiblich. An der neuen Trennlinie müssen ganz besonders akribisch abgegrenzt werden: Eine hohe Tenorstimme wird ebenso geächtet wie eine tiefe Altstimme. Die weibliche Singstimme wird zusätzlich durch mehr Beweglichkeit von der männlichen unterschieden. Besonders die Koloratur, eine Technik, für die zum Beispiel die Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte berühmt ist, wird zum Symbol für Weiblichkeit, für ganz bestimmte Eigenschaften, die oft mit Frauen assoziiert werden: Eitelkeit, Wahnsinn und Hysterie.

Frauen klingen heute anders

Dabei geht der Trend abseits der Bühne in zahlreichen westlichen Kulturen seit einiger Zeit in die entgegengesetzte Richtung. Eine Stimmfeldmessung mit rund 5.000 Erwachsenen und Kindern aus Deutschland ergab, dass deutsche Frauen heute viel tiefer sprechen als noch vor zwei Jahrzehnten. Während sich Männerstimmen in ihrer Tonlage kaum verändert haben, ist die Stimmgrundfrequenz bei Frauen von rund 220 auf nunmehr knapp 170 Hertz gesungen. Damit unterscheiden sich Männer und Frauenstimmen nicht mehr wie früher um eine ganze Oktave, sondern nur mehr um eine Quinte.

Die Forscher*innen gehen nicht davon aus, dass biologische oder hormonelle Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich sind. Viel eher vermuten sie, dass sich Frauen stimmlich an neue Rollenbilder anpassen. Auf den Punkt gebracht: Wenn eine Frau mitten im Leben steht, auch im beruflichen, im öffentlichen Leben, wenn sie nicht Schutzbedürftigkeit, sondern Autorität ausstrahlen möchte, dann klingt sie auch anders.

Dabei kann natürlich gefragt werden, warum es notwendig ist, sich an ein männliches Ideal anzupassen, um Autorität auszustrahlen. Doch das Zentrale an diesen Forschungsergebnissen ist meiner Meinung nach nicht, dass Frauen tun, was sie tun, sondern dass sie in der Lage sind, es zu tun. Dass sie in der Lage sind, tiefer zu sprechen, als von ihnen erwartet wird. Und dass diese tiefen Lagen — nüchtern gesehen  nicht weniger weiblich sind als die hohen.

Und es gibt noch weitere Indizien dafür, dass uns unsere hohe Frauenstimme weit weniger angeboren ist, als wir denken. In der erwähnten Studie aus Deutschland fand man nämlich auch heraus, dass Mädchen nach der Pubertät zunächst noch genauso hoch sprechen, wie noch vor 20 Jahren. Erst mit dem Eintritt ins Erwerbsalter, wenn sie diversere und verantwortungsvolle Rollen einnehmen können, senken sie ihre Stimme.

Doing gender durch Stimme

Unsere Stimme ist also eigentlich gar nicht so natürlich, wie wir denken. Ihr Klang hängt zu einem großen Teil davon ab, wo, wozu und vor allem vor wem wie sie verwenden. Unsere Stimme ist damit weit weniger Teil oder Ausdruck unserer Persönlichkeit. Sie ist konstruiert — und zwar durch ganz konkrete Veränderungen in Tonhöhe, Tonhöhenverlauf, Modulation, die alle entweder mit Männlichkeit oder mit Weiblichkeit assoziiert sind. Und dabei unterliegt sie einem enormen gesellschaftlichen Druck. Die Art und Weise, wie wir unsere Stimme einsetzen, in welchen Tonlagen wir sprechen, wie viel oder wenig Bewegung wir in sie bringen, all das hängt weitgehend nicht von unseren anatomischen Voraussetzungen ab., sondern von den Voraussetzungen in unserem Umfeld.

Je mehr Wert auf binäre Geschlechtsunterschiede gelegt wird, desto stärker driften Sprechweise und Tonhöhe von Männern und Frauen auseinander. Das ist nicht nur in Gesellschaften so, in denen noch starrere Geschlechterrollen vorherrschen als hier in Mitteleuropa. Auch in unseren Medien, im Unterhaltungsfernsehen und in der Werbung distanzieren sich Männer- und Frauenstimmen hörbar voneinander.

Doing gender durch Stimme — also die Art und Weise wie wir durch Stimme vermeintlich typische männliche oder weibliche Attribute verkörpern quasi, und dadurch die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern weiter aufrechterhalten — ist trotz allem auch heute immer noch gang und gäbe.

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Hier gehts zur LIFE-Studie des Uniklinikums Leipzig.

Die Arie aus der „Zauberflöte“ wurde von Edda Moser gesungen:
Edda Moser (s), Queen of the Night; Bavarian State Opera Orchestra, Wolfgang Sawallisch, cond. EMI, recorded August 1972: https://archive.org/details/ActIiDerHoelleRachemoserSawallisch