Ver-rückte Wörter
Living this life
Wir Menschen sind erfinderisch. Wir haben das Rad erfunden, die Demokratie, den Sollbruchstellenverursacher und: Sprache. Heute sprechen etwa 8 Milliarden Menschen rund 7.000 Sprachen weltweit. Dafür braucht man nicht nur schlaue Köpfe, sondern auch einen ganzen Haufen Wörter. Einen ganz schön großen Haufen Wörter. Wörter, die unsere Welt bedeuten. Hier kommt eine Auswahl.
Doppelgänger. Waldeinsamkeit. Weltschmerz. Scheinbar Unübersetzbares fasziniert. Es triebt uns an die Grenzen des sprachlich Möglichen.
Doch Wörter sind durch Sprache gegangene Wirklichkeit. Sie bilden bei Weitem nicht all das ab, was wir tagtäglich erleben und erfahren. Sie sind wie filigrane Scherenschnitte, die einen ganz spezifischen Blick auf die von uns erlebte Welt erlauben. Wenn wir all die scherengeschnittenen Wörter einer Sprache neben- und übereinanderlegen würden, bekämen wir das, was sich mit Worten in dieser Sprache ausdrücken lässt.
Beim Übersetzen allerdings hat es sich nicht damit getan, einzelne Schnitte einfach auszutauschen. Beim Übersetzen müssen wir an unserer Sprache arbeiten, damit das, was wir ausdrücken wollen, durch die Lücken im Netz unserer Scherenschnitte sichtbar wird. Wir müssen verschieben. Die Scherenschnitte, die uns in unserer Sprache zur Verfügung stehen, so neu anordnen, dass die Lücken der einen Sprache so gut es geht über den Lücken der anderen Sprache liegen. Das funktioniert in manchen Fällen einfacher als in anderen. Aber es funktioniert.
Die Wörter in dieser Ministaffel sind also alles andere als unübersetzbar. Sie machen uns schlicht und einfach: ver-rückt. Sie verrücken unsere Wörter und unseren Geist, damit wir das erkennen, was hinter ihnen liegt. Aber hört selbst:
Episode eins: Living this life
Es ist Dienstagmorgen. Wir raffen uns auf. Kriechen aus dem Bett. Frühstück rein, zur Tür hinaus. Wie in Trance. U-Bahn, Arbeit, U-Bahn, heim. Wir trinken Kaffee. Einen, zwei, drei.
tretar (Schwedisch): der dritte Kaffee.
Das Leben läuft. Auf Schienen, am Bildschirm, durch den Filter. Tripf, tropf, tripf, tropf. Heile Welt? 1982 erscheint ein Experimentalfilm von Godfrey Reggio, der das Auseinanderdriften von Mensch und Natur im Zeitraffer dokumentiert.
koyaanisqatsi (Hopi): das Leben im Ungleichgewicht
40 Jahre später sind wir soweit: wir haben ihn erreicht, den historischen Punkt der Menschheitsgeschichte: Die Masse aller existierenden menschengemachten Strukturen übersteigt die weltweite Biomasse. Wir sehen nicht hin. Stecken den Kopf in den Sand und wähnen uns sicher.
struisvogelpolitiek (Niederländisch): eine Politik, die Problemen lieber ausweicht, als sich mit ihnen zu befassen /ˈstrœy̯s.foː.ɣəl.poː.liˌtik/
Und der Zeiger läuft. Tick, tack, tick, tack. Und immer noch türmen sich Dinge über Dinge in unseren Häusern. Kleidung, Plastik, Papier.
tsundoku (積 ん 読, Japanisch): das Stapeln von Büchern, ohne sie zu lesen.
Keine Zeit. Das Leben läuft. Weiter, weiter. Doch: Was wäre, wenn? Wenn heute dieser Moment wäre?
kairos (καιρός, Griechisch): der richtige Moment
Der richtige Moment umzudenken? Anders zu sehen. Anders zu fühlen.
murr-ma (Wagiman): durchs Wasser waten und nur mit den Füßen nach etwas suchen
Sind wir bereit? Bereit dazu, mit den Dingen zu arbeiten, die wir bereits haben. Gestapelt, verpackt, versteckt.
jugaad (जुगाड़, Hindi): eine schlichte, unkonventionelle Erfindung; eine Lösung, die mit den Regeln bricht
Anzufangen, wo es noch keinen Plan gibt.
desenrascanço (Portugiesisch): die Fähigkeit, improvisierte Lösungen für ein Problem zu finden /de.zẽ.ʁasˈkɐ̃.su/
Und den Teufelskreis zu durchbrechen. Die zirkuläre Verknüpfung von Ursache und Wirkung umzukehren in ihr Gegenteil. In einen sich positiv verstärkenden Prozess.
cercle vertueux (Französisch): Engelskreis
Wieder mehr wahrzunehmen.
meraki (μεράκι, Griechisch): intensives angenehmes Gefühl; starker Wunsch nach etwas; Herzblut in etwas stecken /meˈɾa.ci/
Anstatt immer nur zu schauen und zu sehen.
kazuri (Suaheli): klein und schön
Wirklich hinzusehen. Weiter zu sehen, als es unsere Augen erlauben.
yugen (幽玄, Japanisch): das Bewusstwerden der unendlichen und unergründlichen Tiefe aller Existenz, das so kraftvoll ist, dass es nicht in Worte gefasst werden kann
Was, wenn heute tatsächlich dieser eine Moment wäre? Wärt ihr dabei?
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Viele der Wörter aus dieser Staffel stammen aus einem der beiden folgenden Bücher. Beide sind ausgesprochen schön illustriert und enthalten ganz besonders schöne Wort-schätze. Es handelt sich jedoch bei keinem der beiden um wissenschaftlich fundierte Arbeiten. Bei meinen Recherchen ließen sich nicht alle angegebenen Wortbedeutungen bestätigen. Einige der schönen Wörter haben es aus diesem Grund auch nicht in diese Episode geschafft. Auf der Suche nach „Unübersetzbaren“ muss man eben auch etwas vorsichtig sein.
- Edwards, Nicola; Luisa Uribe (2018) Total verrückte Wörter. Schriesheim: 360 Grad Verlag.
- Sanders, Ella Frances (2015) Lost in Translation. London: Square Peg.