Schnee-Wörter
Haben die Inuit 100 Wörter für Schnee?
Wir schreiben das Jahr 1940. Irgendwo in den Weiten des pseudosprachwissenschaftlichen Diskurses taucht die Behauptung auf, Inuit hätten unheimlich viele Wörter für Schnee. 10, 20, 50, 100 Wörter sind es mancherorts. Daten, die diese Behauptung stützen, gibt es nicht. Doch die Behauptung ist kühn und sie wird binnen kürzester Zeit zur Wanderlegende. Und genau diese wollen wir heute etwas genauer unter die Lupe nehmen.
Wer sind eigentlich diese Inuit? Und was ist dran an der Behauptung, sie hätten so viele Wörter für Schnee? Wahrheit oder Lüge? Fakt oder Schnee von gestern?
Beginnen wir mit der ersten Frage.
Die arktischen Völker, die über 8.500 km hinweg rund um den Polarkreis nördlich der Baumgrenze siedeln, leben heute in vier Ländern: Russland, den Vereinigten Staaten, Kanada und Grönland, und sprechen immerhin noch sechs unterschiedliche Sprachen, mit noch viel mehr Dialekten. Die letzte Sprecherin der siebten Sprache ist 1997 gestorben. Keine optimale Grundlage für Aussagen wie „Die Inuit haben…“
Apropos Inuit, die treten in dieser Angelegenheit eigentlich erst viel später auf den Plan. In der ursprünglichen Version der Aussage war nämlich noch von „Eskimo“ die Rede. Die Bezeichnung „Eskimo“ wird heute allerdings nur noch sehr vorsichtig verwendet. Die Etymologie des Begriffs ist unklar. Die Bezeichnung Eskimo wurde von französischen und englischen Siedler*innen aus verschiedenen Algonkinsprachen übernommen, wo es vermutlich „Schneeschuhmacher“ oder„Sprecher einer fremden Sprache“ bedeutet hat. Die Herleitung, wonach mit diesem Wort „Rohfleischesser“ gemeint waren, konnte bis heute nicht hinreichend belegt werden.
Dennoch handelt es sich hier um eine Fremdbezeichnung und nicht alle Menschen, über die wir heute sprechen, identifizieren sich damit. Östlich von Alaska bevorzugt der Großteil der arktischen Bevölkerung den Begriff „Inuit“. Das Wort stammt aus der Sprache jener Gruppen, die hauptsächlich in Kanada und Grönland leben, und ist die Mehrzahl von „Inuk“ (dt.: der Mensch). Es bedeutet demnach nichts anderes als „Menschen“. Es sind jedoch auch andere Bezeichnungen verbreitet.
Sprecher*innen des Grönländischen etwa verwenden auch den Namen „Kalaallit“, eine altnordische Bezeichnung — und damit auch ein Exonym, also eine Fremdbezeichnung — für die indigene Bevölkerung Grönlands während der ersten Besiedelung der damals noch „grünen Insel“ und der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents durch Norweger*innen im Mittelalter.
Gruppen, wie etwa die Yupiit, die in Alaska leben und deren Sprache das Wort „Inuk“ gar nicht kennt, bezeichnen sich auch heute noch selbst als „Eskimo“.
Die sechs bis sieben Sprachen, die über dieses riesige Gebiet verbreitet gesprochen werden, können zu einer großenSprachfamilie zusammengefasst werden: die sogenannten eskimo-aleutischen Sprachen. Auch in der linguistischenTerminologie hat sich die Fremdbezeichnung „Eskimo“ also noch gehalten.
Trotz des enormen Verbreitungsgebiets dieser Familie sind die Parallelen zwischen den einzelnen Sprachen meist sehr groß, vor allem in den Bereichen Syntax (Satzbau) und Lexik (Wortschatz). Im Besonderen teilen sich die Strukturen dieser Sprachen eine spezifische Eigenschaft: die Polysynthese. Diese wird für die Beantwortung unserer Frage später noch einmal wichtig sein.
Der Anfang einer Legende
Den Anfang dieser Geschichte schreibt 1911 Franz Boas — ein amerikanischer Anthropologe deutscher Abstammung — mit einer eher beiläufigen Bemerkung über ein bekanntes linguistisches Prinzip: Die Beziehung zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen ist von Sprache zu Sprache verschieden.
Spätestens nach der strukturalistischen Wende Anfang des letzten Jahrhunderts zählt diese Einsicht zu den Gemeinplätzen sprachwissenschaftlicher Forschung. Und auch Boas war dieser Zusammenhang längst bekannt. Die Bedeutung eines bestimmtes Wortes ist willkürlich und hat sich durch wiederholten Gebrauch innerhalb einer bestimmten Sprachgruppe verfestigt. Es ist also nicht unbedingt überraschend, dass verschiedene Sprachen die Wirklichkeit auf unterschiedlicheArt und Weise in Worte packen.
Um dieses Phänomen zu verdeutlichen, wählt er ein beliebiges Beispiel: Er sagt, die Bewohner*innen der kanadischen Arktis hätten vier unterschiedliche Wörter für Schnee: aput (liegender Schnee), gana (fallender Schnee), piqsirpoq (Schneewehe) und qimuqsuq (Schneetreiben).
Damit wollte er nicht auf die grundsätzliche Verschiedenheit von Sprachen hinweisen. Auch ging es ihm nicht um eine konkrete Wortanzahl. Im Gegenteil: Damit hätten die Sprecher*innen, die er damals — und ziemlich ungenau noch dazu — „Eskimo“ nannte, einiges mit der englischen oder deutschen Sprache gemeinsam: Auch wir kennen je nach Alter, Feuchtigkeit oder Ursprung unterschiedliche Begriffe für Schnee.
Dazu genügt ein kurzer Blick in das Onlinelexikon unserer Wahl: Wir teilen Schnee nach Alter in Neu- und Altschnee ein und sprechen dann von Harsch, von Firn, von Wechten, von Lawinen oder von Gletschern. Wenn wir nach der Feuchtigkeit gehen, begegnen wir Pulverschnee, Pappschnee, Nassschnee, Faulschnee oder auch Sulz. Je nach Auftreten oder Ursprung gibt es auch noch den Flugschnee, Schneeverwehungen, Schneegestöber und sogar technischen Schnee, auch bekannt als Kunstschnee.
Es ist also absolut nicht ungewöhnlich, dass wir verhältnismäßig viele Begriffe für diese Form des Niederschlags haben. Wieso sollte das in der Arktis anders sein? Boas Anmerkung zum Verhältnis zwischen Wort und Bedeutung in den eskimo-aleutischen Sprachen war also wissenschaftlich gesehen — und wortwörtlich — nicht der Rede wert.
Doch es sollte nicht bei Boas harmlosem Beispiel für ein grundlegendes Merkmal von Sprache im Allgemeinen bleiben.
Auf dem Weg zur Wanderlegende
Rund dreißig Jahre später stößt der selbsternannte Linguist Benjamin Lee Whorf auf die verhängnisvolle Vokabelliste. Er sieht in Boas Beispiel einen Beweis dafür, dass die arktischen Völker zwischen Sibierien und Grönland — auch bei ihm waren es immer noch „Eskimo“ — Wirklichkeit, ihre Wirklichkeit, komplett anders wahrnehmen würden als Menschen mit nicht-eskimo-aleutischer Muttersprache.
Nicht nur erweitert er Boas unsystematische Wörtersammlung, ohne Quellen zu nennen. Er strich auch heraus, dass die eskimo-aleutischen Sprachen keinen Oberbegriff für all diese Wörter kannten. Während wir alle möglichen Erscheinungsformen von Schnee immer noch unter einem gemeinsamen Oberbegriff „Schnee“ fassen würden, würden die arktischen Völker Nordamerikas, Russlands und Grönlands keinen Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen herstellen.
Damit löste Whorf das Beispiel von Boas aus seinem ursprünglichen Kontext und verwendete es für eine völlig andere These. Doch im Vergleich zu Boas trockener Darstellung war Whorfs Behauptung richtig sexy. Linguistisch gesehen. Und das wusste auch die Öffentlichkeit.
In den folgenden Jahren griff jede Zeitungskolumne, jede Wettervorhersage diese unhaltbare Aussage auf. Sogar vor der Wissenschaft machte die aufsehenerregende Nachricht nicht Halt. Nicht nur die Anthropologie auch die Sprachwissenschaft druckte den Irrtum bereitwillig in ihren Lehrbüchern ab. Mit jeder Veröffentlichung, mit jedem Kommentar wuchs aber auch die Anzahl der Schneewörter. In den allermeisten Fällen ohne Belege. Ein schönes Märchen. Mehr aber nicht.
Geoffrey Pullum (1989: 279) schreibt Ende der 1980er Jahre unmissverständlich — und auch etwas wirsch:https://www.lehrwerk.at/wp-admin/post.php?post=4645&action=edit#save
“The more you think about the Eskimo vocabulary hoax, the more stupid it gets.”
Doch ist dieser Irrglaube wirklich dumm? Unseriöse Wissenschaft hin oder her, warum hat sich denn niemand hingesetzt und einfach die Schnee-Wörter bei den Inuit gezählt? Um den Mythos ein für alle Mal zu widerlegen?
Eine besondere Sprachstruktur
Eine erste Antwort auf diese Frage habe ich schon zu Beginn der Folge gegeben: Es gibt keine Inuitsprache. Es gibt eine große eskimo-aleutische Sprachfamilie, zu der mehrere Sprachgruppen, Einzelsprachen und Dialekte gehören. Wortschatzfragen wie diese, müssen immer für jede dieser Sprachformen separat behandelt werden. Meine alte Kärntner Oma kennt auch mehr Wörter für Zuckerreindling als ich in meinem Wiener Alltag je brauchen werde.
Eine zweite Antwort finden wir in der besonderen sprachlichen Struktur all dieser Sprachformen. Die eskimo-aleutischen Sprachen sind nämlich sogenannte polysynthetische Sprachen (Dorais 2010: 54 ff.). Wörter, oder das, was wir in der deutschen Sprache Wort nennen, ist in polysynthetischen Sprachen vollkommen anders aufgebaut.
Das, was in arktischen Sprachen zwischen zwei Leerstellen im Satz steht, sind manchmal wahre Wortungetüme. Diese zum Teil auch sehr langen Wörter enthalten allein schon alle nötigen Hinweise, um eine spezifische Bedeutung auszudrücken. Das heißt während Sprachen wie Englisch oder Deutsch, mehrere Wörter brauchen, um etwas zu bezeichnen, genügt in polysynthetischen Sprache eine einzige solche Wortschlange. Dadurch gestaltet sich auch das Wörterzählen in arktischen Sprachen wie dem Inuktitut natürlich sehr schwierig.
Ein Beispiel:
Inuktitut uqa-ruma-ju-aluu-junga. (dt.: Ich möchte gern Inuktitut sprechen.; wortwörtlich: Ich bin ein Großer, der sprechen möchte wie ein Mensch.)
Inuk- (Wortwurzel, Mensch)
-titut (grammatisches Affix, Nominalendung Simulativ)
Uqa(q)- (Wortwurzel, sprechen)
-ruma- (lexikalisches Affix, wollen)
-ju- (grammatisches Affix, jemand, der etwas tut, Nominlaendung Subjekt)
-alu- (lexikalisches Affix, groß)
-u- (lexikalisches Affix, sein)
-junga (grammatisches Affix, erste Person Einzahl, Indikativ, ich)
An die Wortwurzel uqaq- werden fünf unterschiedliche Wortelemente angehängt, die in Kombination den deutschen Ausdruck „ich möchte gern sprechen“ ergeben. Ist aber nun uqarumajualuujunga ein Wort oder viele?
Der Zahl dieser angehängten Wortelemente sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Es darf so lange erweitert werden, wie die Gedächtnisleistung von Sprecher*in und Hörer*in ausreicht und das Gesagte verständlich bleibt. (Nowak 2008)
Eine absurde Aussage
Wir sehen also: Der Begriff “Wort” wird bereits an diesem Beispiel allein praktisch ad absurdum getrieben.
Dieser Schwierigkeit begegnet man natürlich auch beim Schneewortschatz in diversen eskimo-aleutischen Sprachen. Ein Beispiel aus dem Inuinnaqtun, einer gefährdeten Inuitsprache, die in Nunavut und den Nordwest-Territorien von Kanada gesprochen wird:
Das Wort patuqun bedeutet „frostiger glitzernder Schnee“. Das Wort patuqutaujuq bedeutet „ist mit frostigem glitzernden Schnee bedeckt“. Hier wird also aus einer Substantivgruppe „frostiger glitzernder Schnee“ durch Polysynthese ein fast kompletter Satz.
Die Wortbildung in eskimo-aleutischen Sprachen ist dadurch nicht nur unheimlich komplex, sondern auch sehr flexibel und vor allem spontan. „Fertige“ Wörter, die man in ein Wörterbuch schreiben könnte, gibt es in diesen Sprachen nur wenige. Wörter entstehen im jeweiligen Gebrauch und ihre Form wird den Bedürfnissen in einem konkreten Sprechkontext angepasst (Nowak 2008). Das Erstellen eines gewöhnlichen Lexikons, so wie wir es kennen, wirft für Inuit und verwandte Sprachen große Probleme auf. Schließlich würde es dem Duden auch nicht einfallen, ganze Phrasen oder Sätze in seine Wortlisten aufzunehmen. Wo kämen wir denn da hin? Außer vom Hundertsten ins Tausendste?
Natürlich haben Menschen, die in arktischen Regionen leben, viele Wörter für Schnee. Auch seriöse, zeitgenössische Wissenschaftler*innen, die sich für die Sprache und Lebensweise dieser Menschen interessieren, weisen meist auf mehrere Schneewörter hin. Doch auch ihre Listen sind auch immer unterschiedlich. Wie viele Wörter tatsächlich gesammelt werden, hängt immer davon ab, ob nur Wortwurzeln oder auch Ableitungen zählen, ob alle Wörter zählen, die im Ganzen eine bestimmte Form, Farbe, Funktion oder Bewegung von Schnee bezeichnet, oder ob nur Wörter zählen, deren Wortwurzel selbst auch Schnee bedeutet. Listen, in denen nur Wortwurzeln vorkommen, und zwar solche, die auch tatsächlich Schnee bedeuten, sind für gewöhnlich nicht wesentlich länger als Listen auf Englisch oder Deutsch.
In polysynthetischen Sprachen ist es also schwierig Wörter zu zählen. 10 oder 20 oder 100 Wörter für Schnee in eskimo-aleutischen Sprachen ist also wirklich eine absurde Aussage. Aber nicht, weil es diese Wörter nicht gibt, sondern weil es Wörter, so wie wir sie kennen, in diesen Sprachen gar nicht gibt.
Vielleicht müssten wir Whorfs Aussage „haben mehr Wörter für Schnee als wir“ ändern in: „haben mehr Sätze mit Schnee als wir“ oder überhaupt „haben mehr Sätze über Schnee als wir“. Doch vermutlich wäre diese Aussage genauso absurd.
Wir fassen zusammen: Schnee ist einfach weird. Auch Deutsch hat eine ganze Reihe an Wörtern, um ihn sprachlich zu fassen. Und: Die eskimo-aleutischen Sprachen sind komplett anders strukturiert als Deutsch oder Englisch. Sie bauen ihre Wörter so lange aus, bis sie die gewünschte Aussage transportieren. Das führt nicht nur zu extrem langen Wortketten, sondern auch zu langen Wortlisten, die sich aber nicht mit Wortlisten anderer Sprachen, vor allem nicht-polysynthetischer Sprachen, vergleichen lässt.
Der sogenannte „Eskimo vocabulary hoax“ ist aber ein gutes Beispiel für ein weit verbreitetes Phänomen: Wir sind gerne bereit, alles über Menschen zu glauben, die weit weg von uns leben und denen wir selbst noch nie begegnet sind. Doch das hat dann eigentlich nur noch peripher mit Sprache zu tun.
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- Nowak, Elke (2002) Einführung ins Inuktitut.