Sprachgeschichte
Wie alt ist die deutsche Sprache?
Deutsch zählt zu den 10 meistgesprochenen Sprachen der Welt. Heute ist es für rund 100 Mio. Menschen Erst-, für viele weitere Zweit-, Dritt- oder Fremdsprache. Doch woher kommt diese Sprache? Und warum muss man sich als Lerner*in mit Artikeln und komplizierten Adjektivendungen quälen? Und mal ganz ehrlich: Auch auf muttersprachlichem Niveau ist Deutsch nicht immer ein Honigschlecken. Um das herauszufinden, reisen wir heute in der Geschichte zurück und zwar in eine Zeit, in der es Deutsch noch gar nicht gegeben hat. Denn alles fängt immer dort an, wo eigentlich noch gar nichts ist.
Wie alles begann
Deutsch — aus heutiger Perspektive betrachtet — ist eine germanische Sprache. Und gehört damit genauso wie etwa Englisch, Niederländisch, die skandinavischen Sprachen, Jiddisch oder Afrikaans zu den indoeuropäischen Sprachen. Heute zählen die Mehrzahl der Sprachen Europas sowie die iranischen und indischen Sprachen in Ost- und Südasien zu dieser indoeuropäischen Gruppe.
Wir bleiben heute erst mal beim germanischen Zweig dieser riesigen Sprachfamilie. Denn aus diesem hat sich vor etwa 1500 Jahren auch die deutsche Sprache entwickelt. Die deutsche Sprache hat also eine lange Geschichte, die sich über mindestens drei Epochen erstreckt und bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Aber alles der Reihe nach. Beginnen wir dort, wo eigentlich noch gar nichts ist. Also zumindest noch nichts „Deutsches“. „Anderes“ war dort haufenweise. Nämlich Germanen.
In der Mitte des ersten Jahrtausends nach Christus siedelten verschiedenste germanische Stämme in Nord- und Mitteleuropa. Sie alle brauten ihr eigenes politisches und gesellschaftliches Süppchen — das, was sie aus heutiger Sicht zu einer mehr oder weniger einheitlichen ethnischen Gruppe macht, ist ihre Sprache.
Die Sprache der Germanen war jedoch alles andere als einheitlich. Jeder Stamm sprach seine eigene Mundart quasi. Jene im hohen Norden Altnordisch, jene an der Nordsee Altsächsisch, einer Vorstufe des heutigen Niederdeutschen, jene im Süden Alamannisch, dort wo heute westoberdeutsche Dialekte gesprochen werden.
Die Zeit der Völkerwanderungen
Nach und nach haben nun einzelne Stämme begonnen aus ihren ursprünglichen Gebieten abzuwandern. Ihre Sprachen nahmen sie mit. Aus den Geschichtsbüchern kennt man das Ganze als Völkerwanderung.
Mit diesen großen migratorischen Bewegungen entfernten sich also auch die Sprachen der wandernden Völker immer weiter voneinander. Gleichzeitig schlossen sich benachbarte Stämme zu größeren Einheiten mit gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Traditionen zusammen.
Von außen wurden die germanischen Sprachen zudem vom Lateinischen beeinflusst, das mit den Römern im Süden und im Westen regelrecht an die Grenzwälle klopfte. Viele lateinische Wörter, die damals ins Germanische gelangten, stehen auch heute noch bei uns im Wörterbuch. Aus der moneta wurde die Münze, aus dem piper der Pfeffer, aus dem murus die Mauer und aus dem catinus die Küche.
Doch auch die größten Reiche der Geschichte zerfallen irgendwann. An die Stelle der Römer traten im 8. Jahrhundert die westgermanischen Karolinger, sie sich unter Karl dem Großen ein riesiges Reich erkämpften. Sowohl geographischals auch sprachlich-kulturell. Kurzum: Den alten Germanen sollte so rasch wie möglich ihr heidnischer Glaube ausgetrieben werden. Und wie so oft, wenn es um das Entstehen und Vergehen neuer oder alter Sprachen geht, hat die Kirche ihre Finger im Spiel. Sprich wie das Volk, sagt man. Dann glaubt man dir, oder an deinen Gott.
Mit der zunehmenden Christianisierung der germanischen Bevölkerung gewannen also auch ihre Sprachen gegenüber dem Lateinischen an Bedeutung, das damals immer noch die Sprache der Kirche und — ironischerweise — auch der Wissenschaften war.
Doch was genau waren diese germanischen Sprachen nun, die nach den großen Völkerwanderungen in alle Richtungen in der Mitte des Kontinents noch übrig waren. Dort wo Karl der Große zu dieser Zeit herrschte?
Die „Stunde null“
Mit dem 6. Jahrhundert setzt in diesem Gebiet ein zweiter, ganz besonderer Lautwandelprozess ein, die sogenannte deutsche Lautverschiebung. Durch sie wurde aus eben jenen germanischen Dialekten in Mitteleuropa schließlich das Althochdeutsche. Gewandelt haben sich in erster Linie die stimmlosen Plosive (p, t, k), und in einem geringeren Ausmaß auch ihre stimmhaften Gegenstücke (b, d, g). Außerdem entstanden neue Konsonanten wie etwa pf, tz oder ch, die es in den germanischen Sprachen noch nicht gab.
Ein Vergleich mit dem Englischen, das diese Veränderungen nicht mitgemacht hat, zeigt die Unterschiede sehr deutlich. Ein apple ist auf Deutsch ein Apfel, tide wird zur Zeit, und make zu machen. Diese kleinen aber feinen Veränderung sind sowohl systematisch, als auch konsequent. Sie durchziehen den gesamten Wortschatz und werden deshalb als Geburtsstunde einer neuen, eben deutschen Sprache gesehen. Arme Mutter Germania, denn dieser Prozess erstreckte sich über mehrere hundert Jahre.
War es das also schon? Macht diese zweite Lautverschiebung aus der Sprache der alten Germanen nun genau das Deutsch, das wir heute sprechen? Leider nein.
Die ersten deutschen Texte, die in dieser — wir sagen — althochdeutschen Sprachstufe entstanden sind, sind heute nicht mehr ohne Weiteres lesbar. Mehr noch: Die zweite Lautverschiebung hat die ursprüngliche dialektale Vielfalt in Mitteleuropa sogar noch verstärkt.
Sie teilt den nunmehr althochdeutschen Sprachraum von der heutigen Schweiz und Österreich bis hinauf an die Ostsee in drei große Dialektgebiete ein, die — mehr oder weniger — bis heute bestehen. Im sogennanten oberdeutschen Sprachraum ganz im Süden — also auch in der Schweiz und in Österreich — wird der Lautwandel vollständig vollzogen. Die Dialekte im mitteldeutschen Raum zwischen dem Erzgebirge im Südwesten und dem südlichen Brandenburg im Nordosten machen die Verschiebung nur zum Teil mit. Und im niederdeutschen Raum ganz im Norden Deutschlands hat sie — genauso wie im Englischen oder Niederländischen — gar nicht stattgefunden.
Das Fehlen dieser neuen hochdeutschen Merkmale in den niederdeutschen Dialekten ist auch heute noch für Unterschiede wie etwa zwischen ik im Norden und ich im Süden verantwortlich, oder zwischen maken im Norden und machen im Süden.
Der deutsche Sprachraum dehnt sich in dieser ersten hochdeutschen Periode, die man sprachhistorisch zwischen 750 und 1050 festlegt, immer weiter Richtung Osten und Süden aus. Damals entstehen erste Schriftzeugnisse in althochdeutscher Sprache und lateinischer Schrift. Die alten Runen, die die Germanen von den Kelten übernommen hatten, gehörten damit endgültig der Vergangenheit an.
Linguistisch gesehen stehen wir aber am Beginn dieser Periode wieder vor einer „Stunde null“ (Riecke 2021:15). Trotz der Lautverschiebung, die den süddeutschen Raum geprägt hat, gab es immer noch viele Dialekte die nebeneinander existierten — Kommunikation über die unmittelbare Umgebung hinaus fand — wie noch im römischen Reich — auf Latein statt.
Auch die Kirche kommunizierte und missionierte in lateinischer Sprache. Sogar die Bezeichnung „deutsch“ wurde aus dem Lateinischen theodisce als Fremdbezeichnung für Volkssprache entlehnt.
Die deutschsprachige Bevölkerung empfand sich damals noch nicht als Einheit. Sie sprachen und schrieben in ihren jeweiligen Dialekten: in Fränkisch, in Alemannisch, in Bairisch. Meist wie Kraut und Rüben, denn es gab keine standardisierte Schriftsprache, geschweige denn eine einheitliche Rechtschreibung. Und dennoch handelt es sich bei diesen regionalen Sprachen um die Voräuferinnen unseres heutigen Deutsch.
Die Mittelhochdeutsche Faulheit
Einen zweiten großen Einschnitt in die Sprachgeschichte des Deutschen stellten die großen Pandemien und Hungersnöte um das Jahr 1050 dar. Katastrophen wie diese führen oft zu starken Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur und treiben dadurch Sprachentwicklungen voran (vgl. Riecke 2021:39).
Eine dieser Entwicklungen ist die Abschwächung unbetonter Silben, die nicht nur den Klang der deutschen Sprache verändert haben, sondern auch die grammatischen Strukturen. Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts kann also von einer neuen Sprachstufe gesprochen werden kann: dem Mittelhochdeutschen.
Um diese Veränderungen in der Sprache zu verstehen, müssen wir noch einmal auf den berühmten Trochäus zu sprechen kommen, von dem in diesem Podcast ja schon öfter die Rede war. Eine typische Eigenschaft der deutschen Sprache ist nämlich die Betonung auf der Stammsilbe. Das gewöhnliche Betonungsmuster in einem einfachen Wort ist also betont—unbetont. Apfel, Birne, Kirsche.
Das klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich spannend. Jede Sprache betont irgendwie anders. Doch für die Sprecher*innen einer Sprache mit trochäischem Betonungsmuster bedeutet das, dass ihre gesamte artikulatorische Energie in diese erste und noch dazu besonders stark betonte Silbe fließt. Ergo: Für die zweite Silbe ist dann kaum noch Puste übrig.
Was am Übergang zwischen Alt- und Mittelhochdeutsch also geschieht, ist Folgendes: unbetonte Endsilben werden vernuschelt oder sogar ganz verschluckt. Viel zu anstrengend, müssen sich unsere mittelalterlichen Vorfahr*innen wohl gedacht haben. Alle Wörter mit vollen Vokalendungen auf a, i, o und u wurden auf einen einzigen Schwa-Laut reduziert: e. Oder sie wurden gleich ganz weggelassen. Aus der fila wurde die Feile, aus dem grafo der Graf.
Soweit so gut, das allein hätte ausschließlich klangliche Auswirkungen auf die deutsche Sprache gehabt. Nun war es aber so, dass in diesen vielen kleinen Wortendungen damals viele kleine oder größere grammatikalische und semantische Informationen verpackt waren. In welchem Fall steht das Wort? Von wie vielen Personen sprechen wir? Und so weiter.
Die frühdeutsche Faulheit bei der Aussprache führte also unmittelbar auch zu grammatischen Änderungen an der deutschen Sprachstruktur. All die Informationen, die durch das Wegfallen der Endungen verloren gegangen sind, mussten jetzt irgendwo anders im Satz Platz finden. Entweder in Adjektiven oder Pronomen, oder in Vorsilben: aufstellen, abstellen, bestellen, unterstellen, erstellen, entstellen, verstellen. Stell dir mal vor! Dazu kommen Umlaute, viele neue Pluralformen und nicht zuletzt Artikeln, die es vorher auch noch nicht gab.
Kein Wunder also, dass man da im Deutschkurs ins Schwitzen kommt. Und im Grunde alles nur, weil sich ein paar Deutsche vor vielen, vielen Jahrhunderten, als sie noch nicht einmal wussten, ob sie wirklich Deutsche sein wollen, zu gut waren, sich beim Sprechen ein bisschen anzustrengen. Eigentlich ziemlich unfair.
Nichtsdestotrotz gewann das Mittelhochdeutsche in dieser Periode auch außerhalb der klösterlichen Schreibstuben an Bedeutung. Nach und nach begannen sich auch Lai*innen — also alles was nicht Mönch war — für das Medium Schrift zu interessieren. An den Höfen der Adligen bildete sich eine mittelhochdeutsche, vom Lateinischen losgelöste Schriftkultur heraus, die von dort aus auch in die Wissenschaften, ins Recht und in die Verwaltung gelangten.
Von einer gemeinsamen deutschen Schriftsprache, also von einer überregionalen und über den Dialekten stehenden Standardsprache, wie wir sie heute haben, kann aber auch damals noch nicht die Rede sein. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass sich die deutsche Standardsprache nicht aus einem einzigen Dialekt heraus entwickelt hat, wie etwa das Französische oder das Italienische, sondern einen Ausgleich quasi zwischen verschiedenen Dialekten und Sprachschichten darstellt. Und an diesem Punkt waren wir damals noch nicht.
Auf dem Weg zur Standardsprache
Noch nicht. Denn ab dem 14. Jahrhundert geht es Schlag auf Schlag. Martin Luther übersetzt die Bibel ins Deutsche und trägt damit enorm zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache bei. Die Sprache, die er für seine Bibelübersetzung wählt basiert zu großen Teilen auf den Süd- und Mitteldeutschen Dialekten.
Bereits zuvor hat sich Johannes Gutenberg mit seiner Buchpresse einen Namen gemacht. Durch das einfache und günstige Druckverfahren auf Papier konnte sich die deutsche Schriftsprache schnell und weit verbreiten. Es entwickelten sich nach und nach überregionale Standardsprachen, während immer mehr Bücher auf Deutsch — und nicht nur auf Latein — gedruckt werden.
Rein linguistisch gesehen sind vor allem Veränderungen am Vokalsystem für diese neue frühneuhochdeutsche Sprachstufe charakteristisch. Aber auch hier setzen sich die Veränderungen nicht in allen deutschen Gebieten gleichmäßig durch. Im Süden stärker als im Norden. Wie auch schon vor ein paar hundert Jahren bei den Konsonanten. Die bereits gravierenden Unterschiede zwischen Hoch- und Niederdeutsch verstärken sich dadurch noch. Lautlich ähneln sich die beiden Sprachformen mittlerweile nur noch wenig.
Ab ca. 1600 ist dann eine einheitliche Schriftsprache in Gebrauch, über die man sich in sprachpflegerischen Kreisen sehr große Gedanken macht. Wie schreibt man richtig, spricht man schön und vor allem wie hält man die deutsche Sprache rein von fremdsprachigen Ausdrücken? Diese intensive Phase der Sprachreflexion führt nicht nur zu einer allseits verständlichen überregionalen Schriftsprache, sondern auch zu einer Sprache als Zeichen kultureller Einheit und Identität.
Mit der Ausrufung des Deutschen Reichs 1871 erhält die deutsche Sprache nicht nur das Attribut Nationalsprache, sondern zugleich auch eine allgemein gültige Rechtschreibung. Die damals von Konrad Duden niedergeschrieben orthographischen Regeln galten übrigens bis zur Rechtschreibreform 1996. An Aussprache und Struktur ändert sich in dieser Sprachstufe allerdings kaum noch etwas. Bis auf die Verschmähung des gerollten r, das vielerorts durch das geriebene r ersetzt wurde, und die gelegentlichen Kasusvereinfachungen wie der vermeintliche Tod des Genitiv durch den Dativ ist es auf diesem Gebiet recht ruhig.
Deutsch, quo vadis?
Die deutsche Gegenwartssprache hat seit althochdeutscher Zeit einen stabilen Kernwortschatz, seit mittelhochdeutscher Zeit einen weitgehend unveränderten Satzbau und hat sich auch auf lautlichen Ebene seit dem 18./19. Jahrhundert kaum gewandelt.
Deutsch hat eine lange Geschichte. Der Weg vom germanischen Dialekthaufen zur Standardsprache war oft steinig und nicht immer ging es strikt geradeaus. Wohl auch deswegen ist Deutsch — und zum Glück — nie eine Weltsprache geworden. Das jahrhundertelange Nebeneinander verschiedener Varietäten mag die Einführung einer gemeinsamen Schriftsprache vielleicht ein bisschen verzögert haben, hat aber auch dazu geführt, dass wir heute, im 21. Jahrhundert und fast 1200 Jahre nach der „Stunde null“ der deutschen Sprache immer noch einen bunten Teppich diverser alemannischer, bairischer, fränkischer, sächsischer, … weiter Dialekte haben, die zusätzlich zum deutschen Standard gehegt und gepflegt werden.
Dass sich das Deutsche und ihre Sprecher*innen aber mit diesem Zustand nicht zufrieden geben werden, ist ziemlich genauso klar wie Kloßbrühe. Dass sich unsere Sprache auch weiterhin verändern wird, steht außer Fragen. Sprache bleibt nun mal Sprache. Die können nicht anders.
Gerade vor ein paar Jahren wurde nach langem mal wieder ein neuer Buchstabe eingeführt. Das große scharfe S. Schon aufgefallen? Na eben, war doch gar nicht so schlimm, oder?
Was wohl als nächstes kommt? Kein -n im Dativ Plural? Ein orthographisches Zeichen für inklusiven, gendersensiblen Sprachgebrauch? Weitere Lautverschiebungen? Damit Wörter mit komplexen Konsonantenverbindungen wie Strumpf oder Angstschweiß tatsächlich aussprechbar werden? Meine Schüler*innen würden es uns jedenfalls danken.
Weiterlesen
- Haarmann, Harald (2010) Die Indoeuropäer. Herkunft, Sprachen, Kulturen. C. H. Beck Wissen.
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Rieke, Jörg (2021) Geschichte der deutschen Sprache. Eine Einführung. Reclam Verlag.