Kulturtechnik

Was passiert beim Lesen im Gehirn?

Nun mal ehrlich: Wie viele Bücher habt ihr dieses Jahr schon gelesen? Wie viele Paper? Zeitungsartikel? Einkaufslisten? Captions und Tweets? Richtig: Keine Ahnung. Lesen geht für die meisten von uns automatisch. Wir lesen, weil wir es einfach können. Nur: woher? Wer hat uns das Lesen gelehrt? Klar, die Mama, oder der ältere Bruder, spätestens dann die Volksschullehrerin. Aber wer hat diese Menschen das Lesen gelehrt, und ihre Eltern und Großeltern und Urgroßeltern? Genau darum geht es im heutigen Beitrag.

Der Zauber des Lesens

Für die Babylonier war das Lesen noch eine Art Zauberkraft und ging daher, wie alle anderen magischen Fähigkeiten auch, auf den Gott Ea zurück.

In Assyrien glaubte man an Nabu, der die Menschheit alle Künste und Techniken gelehrt hatte, eben auch das Lesen.

Im Hinduismus erzählt an von Ganesha, dem Gott mit dem Elefantenkopf, der sich in seiner Not sogar einen Stoßzahnabbrach, um sich daraus einen Bleistift zu machen. Manchmal muss man sich seine Gedanken einfach aus dem Kopf schreiben. Koste es, was es wolle.

Auch die wichtigsten Gesetzestafeln in der Bibel sind handgeschrieben und stammen direkt aus der Hand Gottes, der sie Moses übergab, damit dieser für Recht und Ordnung in der christlichen Gemeinschaft sorgen konnte.

Was in den Religionen der Welt wie ein magisches Kunststück erscheint, für das Gottheiten verantwortlich sind und ab und zu auch mal ein paar Zähne verlieren, ist aber auch für die moderne Wissenschaft noch immer ein spooky business.

Denn was, wenn ich euch jetzt sage: Der Mensch ist eigentlich gar nicht zum Lesen geschaffen.

Unser Gehirn ist zu jung

Das Wunder der Schrift mag vielleicht nichts Mystisches an sich haben, doch es ist durchaus erstaunlich. Bleiben wir nur einmal beim Lesen:

Unser menschliches Gehirn hat sich vor rund 100.000 Jahren entwickelt. In einer Zeit, als es unseren Vorfahren noch hauptsächlich darum ging, Fressen zu finden und nicht selbst gefressen zu werden. Einer Zeit, in der es noch lange nicht darum ging, Sprache auch in schriftlicher Form zu verarbeiten.

Die ersten Schriftsysteme tauchten vor rund 5.000 Jahren in Mesopotamien und Ägypten auf. Eine Schriftkultur, wie wir sie heute haben, war aber erst mit der Erfindung des Buchdrucks und noch viel später mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht möglich.

Wir hatten — evolutionstechnisch gesehen — eigentlich gar nicht genügend Zeit, uns auf die kognitiven Herausforderungen des Lesens vorzubereiten. Und trotzdem verfügen geübte Leser*innen über hoch entwickelte Mechanismen, die die beim Lesen involvierten Abläufe perfekt unterstützen. Wie macht unser Gehirn das nur? Intelligentzturbo? Zauberei?

Über die These mit der Zauberei lässt sich streiten. Doch paradox ist die ganze Geschichte schon. Aber alles der Reihe nach.

Das Paradoxon des Lesens

Das Paradoxon des Lesens beginnt dort, wo man es vermutet: auf einem Blatt Papier. Man könnte meinen, wir sähen beim Lesen einen ganzen Text vor unseren Augen. In Wahrheit ist unser menschliches Auge, genauer gesagt unsere Netzhaut, gar nicht fürs Lesen gebaut.

Zum Lesen können wir nämlich nur die Mitte der Netzhaut verwenden. Jenen kleinen Teil, auf dem sich ultra hochauflösende Fotorezeptoren befinden, mit denen wir die kleinen Details von Buchstaben oder anderen Schriftzeichen auch wirklich erfassen können. Das bedeutet, wir können nur in einem kleinen Bereich so scharf sehen, dass wir das Gesehene auch lesen können.

Ihr wollt wissen, wie groß dieser Bereich tatsächlich ist? Hebt doch mal euren Zeigefinger und streckt euren Arm komplett und nach vorne aus. Seht ihr eure Fingerkuppe? Das sind etwa 15 Grad eures kompletten Sehfeldes. Nur in diesem kleinen Bereich ist Lesen möglich. Eine Fingerkuppe. Das entspricht (beim Lesen von links nach rechts) etwa drei bis vier Wörtern links und sieben bis acht rechts von dem Wort, auf das wir gerade schauen. Mehr nicht. Außerhalb dieses Bereichs wird das Sehen immer unschärfer.

Daher müssen wir unsere Augen beim Lesen auch ständig bewegen. Immer ein ganzen Stück vorwärts, in sogennanten Sakkaden, Minisprünge von etwa 7 bis 9 Wörtern, 3 bis 4 pro Sekunde. Das ist 10 Mal schneller als ein Augenzwinkern.

Auch im Gehirn selbst sieht es für das Lesen anfangs recht traurig aus. Es gibt kein Lesemodul, das von Anfang an für das Lesen ausgestattet ist, ähnlich wie dem Sprachnetzwerk, das bereits bei Säuglingen aktiv wird, wenn sie Sprache hören. Weil sie menschliche Sprache sofort als solche erkennen. Anders ist das bei Schrift. Schrift ist eine relativ neue Kulturtechnik, auf die sich unser Gehirn schlicht und einfach noch nicht einstellen konnte. Die Tatsache, dass Schriftzeichen als Symbole für gesprochene Sprache stehen, müssen Kinder erst entdecken, erst lernen.

Doch wie geht das? Wenn weder unser Auge noch unser Gehirn auf das Lesen vorbereitet sind? Doch Zauberei?

Neuronales Recycling

Der französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene hat eine ganz andere Theorie entwickelt : Er spricht beim Lesenlernen von “neuronalem Recycling”. Neuronales Recycling ist genau das, wonach es sich anhört. Beim Lesenlernen passt unser Gehirn bereits bestehendeSchaltkreise an die neue Aufgabe an. Dehaene geht also davon aus, dass wir bereits existierende Hirnfunktionen auf das Erkennen geschriebener Sprache spezialisieren. Aber darauf kommen wir gleich noch einmal zurück.

Wie gelangt ein Wort vom Blatt Papier über unsere Netzhaut ins Gehirn und wie wird dort aus schwarzer Tinte Sinn? Das lässt sich mittlerweile mit moderner Technik bildlich darstellen. Beim Lesen eines einzelnen Wortes wandert der Sehreizvon unserer gar nicht so perfekten Netzhaut einmal quer durchs ganze Gehirn und landet im Hinterhaupt in der Sehrinde. Genauso wie das auch bei allen anderen visuellen Reizen aus der Umwelt ist. In diesem Moment unterscheidet unser Gehirn also noch nicht zwischen einem Buchstaben und einem Gesicht zum Beispiel. Hier findet ausschließlich eine Vorverarbeitung statt.

Von der Sehrinde wandert ein Reiz, der von einem Schriftzeichen ausgelöst wird, dann aber anders weiter. Sehr vereinfacht gesagt: Während ein Gesichtsreiz in die rechte Hirnhälfte geschickt wird, geht es für einen Schriftreiz vorzugsweise in die linke. Dort wandert er an der Unterseite es Schläfenlappens entlang wieder ein Stück nach vorne.

Nach etwa 70 Milllisekunden befindet sich der Reiz in einer Region am unteren hinteren Schläfenlappen, in der das Gehirn schließlich die Wortform erkennt. Diese Information über die Identität eines Wortes wird dann mit rasender Geschwindigkeit, fast explosionsartig, weiter nach vorn in verschiedenste Bereiche des Schläfen- und Frontallappens geleitet. Hauptsächlich in allgemein sprachverarbeitende Bereiche, wo das Wort dann in Laute umgewandelt und mit Bedeutung versehen wird. Danach zieht sich die Aktivität wieder Richtung Hinterhaupt zurück.

Dieser ganze Prozess ist unheimlich schnell. Innerhalb von einer Viertelsekunde versehen wir das von uns gelesene Wort so mit Bedeutung. Das ist einerseits möglich, weil die Nervenfasern, die die für das Lesen wichtigen Teile der Sehrinde mit dem Sprachnetzwerk verbinden, wahnsinnig gut isoliert sind, also eine besonders störungsfreie und deswegen rasche Signalübertragung ermöglichen. Und andererseits weil viele Teilprozesse auf diesem Weg nicht hintereinander, sondern simultan verlaufen.

Dieser Weg, den ein gelesenes Wort durch unser Gehirn nimmt, ist erstaunlich universell. Alle Menschen lesen mit den gleichen Hirnregionen. Egal in welcher Sprache. Und egal in welchem Schriftsystem. Natürlich gibt es innhalb dieses Netzwerks kleinere Unterschiede.

Unterschiedliche Lesewege

Chinesische Schriftzeichen, das japanische Kanji oder andere Schriften die vorwiegend Wörter darstellen, führen zu einer stärkeren Aktivierung der hinteren linken Schläfenregion, wo vorwiegend Bedeutung repräsentiert ist.

Alphabetische Schriften, das chinesische Pinyin oder die japanischen Kana dagegen aktivieren die obere linke Schläfenregion stärker, wo auch Gehörtes verarbeitet wird und wo auch Sprachlaute repräsentiert sind.

Ein ähnliches Aktivierungsmuster finden wir auch innerhalb alphabetischer Schriften. Die relativ regelmäßige deutsche Rechtschreibung erlaubt es uns, einen Buchstaben ziemlich einfach in einen Laut umzuwandeln. Beim Lesen eines deutschen Textes werden also die Hörareale des Schläfenlappens etwas stärker aktiviert. Das Englische hingegen hat eine deutlich undurchsichtigere Rechtschreibung. Hier werden beim Lesen verstärkt Areale aktiviert, die nicht die Lautstruktur, sondern die Bedeutung der Wörter analysiert.

Sogar in ein und derselben Sprache sind beide Lesewege immer in Gebrauch. Lesen wir häufige oder unregelmäßige Wörter, werden die Informationen über ihre Wortform direkt in die semantischen Bereiche des mittleren Schläfenlappens geschickt. Das ist fast so, als würden wir Chinesisch lesen. Regelmäßige Wörter oder Wörter, die selten sind oder uns unbekannt, werden zunächst in die Hörareale im oberen Schläfenlappen geleitet. Wir sprechen sie also erst mal im Geiste aus und verknüpfen sie erst dann mit Sinn.

Die Stärke der Aktivierung in bestimmten Teilgebieten des Lesenetzwerks im Gehirn können sich also von Sprache zu Sprache oder von Wort zu Wort etwas unterscheiden. Im Großen und Ganzen läuft der Leseprozess aber bei allen Menschen gleich ab.

Schriften passen sich dem Gehirn an

Mit dem Moment, und zwar erst in dem Moment, in dem wir lesen lernen, beginnt sich unser Gehirn zu verändern. Durch die kontinuierliche Konfrontation mit dem Medium Schrift und durch regelmäßiges Training speichern wir Buchstaben- und Wortformen in einem dafür vorgesehen Bereich im Gehirn ab, um sie später, beim flüssigen Lesen, schnell abrufen zu können.

Dieses Abspeichern findet direkt nach dem Eintreffen eines visuellen Reizes in der Sehrinde statt — nämlich genau in jener Region, die als Umschlagplatz zwischen Sehrinde und Sprachnetzwerk fungiert. Ihr erinnert euch: dort, wo Wörter ihre Form als Wörter erhalten.

Das Interessante daran: Diese Region ist eigentlich gar nicht auf die Worterkennung ausgelegt. Bei anderen Primaten genauso wie bei Kindern, die noch nicht lesen können, unterschieden die Neurone in diesem Areal noch nicht, ob sie es mit einem Gesicht oder einem Buchstaben zu tun haben. Diese Spezialisierung auf Schriftzeichen entwickelt sich erst im Laufe des Leselernprozesses.

Das Lesen beginnt also in einer Hirnregion, die eigentlich für die visuelle Identifikation von Gegenständen verantwortlich ist. Jene Neurone, die bei unseren Vorfahren für das Erkennen von Gesichtern und von Formen zuständig waren, reagieren heute bei lesenden Menschen auf Buchstaben und auf Wörter.

Dass uns das Lesen heute — sobald wir es einmal gelernt haben — so leicht fällt, führt Dehaene darauf zurück, dass sich in unseren Schriften — und zwar in all unseren Schriften — Formelemente wiederfinden, anhand derer unser Gehirn auch gewöhnliche Gegenstände in unserer Umwelt identifiziert.

Wir recyclen also nicht nur Hirnregionen, sondern auch Formen aus der Natur für unsere Schriftzeichen.

Kurz: Wir waren vermutlich schon immer in der Lage, diese Formelemente in den betreffenden Hirnstrukturen zu dekodieren. Mit der Erfindung der Schrift und der schrittweisen Anpassung unserer frühen Schriftzeichen an diese Elemente, haben es uns unsere Vorfahren erleichtert,  diese neue Art von Gegenständen rasch und mit großer Präzision zu erkennen und zu erlernen.

Und damit löst Dehaene den Zauber des Lesens auf: Nicht unser Gehirn passt sich dem Lesen an. Wir haben unsere Schriften an unser Gehirn angepasst.

Nach allem, was wir heute gehört haben, sollte eines klar sein: Der Mensch ist eigentlich nicht fürs Lesen gemacht. Also bitte hört auf mich, wenn ich euch jetzt sage: Leute lest, und lest soviel ihr könnt! Denn wir haben uns diese Fähigkeit— diese wunderbare, fantastische Fähigkeit — sehr, sehr hart erarbeitet.

Weiterlesen

  • Dehaene, Stanislas (2009) Reading in the Brain. The new science of how we read. New York: Penguin Books.