Gespräche führen

Was passiert beim Sprechen im Gehirn?

Wann immer wir sprechen, sprechen wir mehrdeutig. Was wir sagen wollen, wenn wir etwas sagen, erschließt sich keineswegs allein aus den gesagten Worten. Wieso — könnte nun die etwas provokative Frage lauten — missverstehen wir uns dann nicht noch viel häufiger, als wir das ohnehin schon tun?

Hat das vielleicht mit der berühmten Wellenlänge zu tun? Und wenn ja, wie kann man untersuchen, ob die Wellenlänge auch wirklich stimmt? Die Antwort auf diese Fragen suchen wir im heutigen Beitrag.

Sprechen ist schnell, Gespräche sind schneller

Nehmen wir nur einmal das abwechselnde Sprechen. Wenn wir nicht gerade in einer Fernsehtalkshow sitzen und im Vorhinein eine bestimmte Redezeit zugewiesen bekommen haben, geht es beim Reden ziemlich heiß her. In der Alltagskommunikation dauert eine typische Äußerung nur rund ein bis zwei Sekunden. Dann ist schon wieder die nächste dran. Die Pause, die während dieser Turn Talkings entsteht — so nennt man den Sprecher*innenwechsel in der Gesprächsforschung —, beträgt im Schnitt gerade einmal eine Fünftelsekunde. Eine Fünftelsekunde.

Das mag vielleicht beim Sprint lang genug sein, um nach dem Startschuss loszulaufen — zum Lossprechen bräuchten wir aber deutlich mehr Zeit. Sprechen bedeutet nämlich nicht nur die motorische Feinstabstimmung von Lippen, Kiefer, Zunge und Stimmbändern, sondern auch, dass man sich vorab überlegt hat, was man überhaupt sagen will. Im besten Fall halt. Allein die Vorbereitung eines einzigen Wortes dauert dreimal so lang wie eine normale Gesprächspause. Für einen kurzen Satz brauchen wir etwa eineinhalb Sekunden. Wie also soll das gehen?

Wie schaffen wir es, im Gespräch nicht den Faden zu verlieren, wenn Zuhören, Planung und eigenes Sprechen in weiten Teilen gleichzeitig stattfinden müssen?

Nehmen wir ein Beispiel:

Wir werden den Satz “Ich habe einen Fünfer.” ganz unterschiedlich interpretieren, wenn wir ihn von unserer lernmüden Tochter nach einer Schularbeit hören oder spätnachts und hungrig vor dem Würstelstand. Je nachdem, ob mit dem Fünfer eine Schulnote oder ein Geldschein gemeint ist, werden wir auch unsere Antwort anders wählen.

Bei der Schulnote ist wohl ein “Oh je!” oder ein “Schon wieder?” angebracht — je nachdem. Beim erfolglosen Suchen nach der eigenen Geldbörse vor dem Würstlstand werden wir wahrscheinlich “Ja, super!” antworten. “Danke!”

Dass wir wissen, was der Fünfer bedeutet, schließen wir meist aus dem Kontext. Auch das ist bereits eine kognitive Leistung. Doch dass uns in der Situation flott die passende Antwort über die Lippen kommt, bedarf schon etwas mehr Erklärung.

Ein Blick ins Gehirn

Neurolinguistische Studien auf diesem Gebiet stoßen schnell an ihre Grenzen. Bildgebende Verfahren wie das fMRT erlauben es uns zwar mitanzusehen, wie das Gehirn arbeitet. Doch die zeitliche Auflösung der Bilder ist aktuell noch sehr gering.

Dazu kommt, dass Untersuchungen im MRT sehr teuer sind und meist nur sehr wenige Versuchspersonen getestet werden können. Außerdem lassen sich gewöhnliche Dialoge nur schwer im Kernspintomographen nachspielen.

2010 hat sich ein Team von Psycholinguist*innen aus den USA daher ein ganz besonderes Studiendesign überlegt. In einem ersten Schritt haben die Forscher*innen die Hirnaktivität einer Doktorandin gemessen, die ein peinliches — und etwas konfuses — Erlebnis von ihrem Schulball erzählt hat. Die Geschichte der Doktorandin wurde aufgezeichnet und im Anschluss elf Versuchspersonen vorgespielt. Eine englischsprachige Kontrollgruppe hörte dieselbe Geschichte auf Russisch, um das Hören vom Verstehen abzugrenzen. So wollte das Forschungsteam die Aktivitätsmuster der Erzählerin mit den Aktivitätsmustern der Hörer*innen vergleichen.

Das Ergebnis war eindeutig: Die Hirnaktivität der hörenden Versuchspersonen war in beiden Hirnhälften an die der sprechenden Person gekoppelt. Das zeigt zum einen, dass nicht nur die linke, sondern auch die häufig als weniger relevant betrachtete rechte Hemisphäre am Verstehen von Alltagssprache beteiligt ist. Und es zeigt zum anderen, dass wir tatsächlich so etwas wie hellseherische Fähigkeiten haben, wenn es um die Kommunikationsabsichten unseres Gegenübers geht.

Denn was sich auf den Scans zeigte, war eine ganz besondere Art von Koppelung. Während mache Hirnareale bei den Hörer*innen kurz nach der entsprechenden Aktivierung bei der Sprecherin aktiv wurden, waren andere Areale bereits mehrere Sekunden vor der entsprechenden Aktivierung bei der Sprecherin aktiv.

Dieses vorausschauende Mitdenken beim Zuhören hatte auch einen großen Einfluss darauf, wie gut die Hörer*innen die Schulballgeschichte verstanden hatten. Je besser die Vorhersagefähigkeit der Hörer*in, desto besser hatte sie oder er die Geschichte verstanden.

Alles im Takt

Um nun die zweite Seite eines alltäglichen Dialogs zu untersuchen — die Antwort der Hörerin oder des Hörers —, führte dasselbe Forschungsteam weitere Experimente durch. Wie sich herausstellte, ist es für uns nicht schwieriger, zuzuhören und gleichzeitig unsere Antwort zu planen, als selbst zu sprechen und währenddessen unseren nächsten Satz zu planen.

Die Forscher*innen erklären das damit, dass die Hirnareale, die beim Sprechen und Hören angeregt werden, Informationen in unterschiedlichen Rhythmen sammeln. Die Hörrinde in etwa arbeitet am schnellsten. Andere Hirngebiete, die sich nicht mehr mit einzelnen Lauten, sondern mit ganzen Wörtern und Sätzen befassen, sind da schon deutlich langsamer. Areale hingegen, die außerhalb der eigentlichen Sprachzentren liegen, und die den Inhalt einer Geschichte unabhängig von seiner sprachlichen Form speichern, arbeiten noch viel langsamer.

Dass unser Gehirn beim Sprechen auf höchster Ebene sprachunabhängig arbeitet, zeigt sich in Studien mit Sprecher*innen unterschiedlichen Sprachen. Jene übergeordneten Areale, also dort, wo es nur noch um den Inhalt des Gesagten geht, waren bei  allen Sprecher*innen zeitlich gekoppelt, obwohl das akustische Signal, also der Sprachinput, verschieden war.

Unser Gehirn scheint also Aufgaben, die es während eines Gesprächs zu erledigen hat, unterschiedlich zu takten. Dadurch schont es unser Arbeitsgedächtnis und ist in der Lage, scheinbar gleichzeitig neue Informationen in einen größeren Gesprächskontext einzubinden und eigene Äußerungen zu planen und zu artikulieren.

Noch ist die bildgebende Hirnforschung noch nicht ganz in Lage, realtitätsnahe Dialoge aus dem Alltag zu analysieren. Doch eines zeigen die Experimente bereits heute: Sprechen ist eine grundlegend menschliche Fähigkeit.

Zwar hat man bereits auch bei anderen Primaten Pseudodialoge beobachtet, also eine Art Rede-Antwort-Verhalten, wie wir es von menschlichen Gesprächen kennen. Doch das komplexe Zusammenspiel zwischen Hören, Verstehen, Planen und Sprechen erfordert ein noch höher entwickeltes Gehirn.

Also denkt daran, wenn ihr das nächste Mal mit der Freundin im Café sitzt und über Gott und die Welt lästert: Euer Oberstübchen läuft gerade auf Hochtouren.

Weiterlesen

  • Berger, Ruth (2018) Was beim Sprechen im Kopf passiert. In: Spektrum Kompakt, Sprache und Denken. 40/2022.