Kommunikation
Was sind Pfeifsprachen?
Pfeifsprachen gibt es überall auf der Welt. Meist werden sie in abgelegenen, schwer zu erreichenden Gegenden verwendet, um über große Distanzen zu kommunizieren. Dabei wandeln sie die komplexen Sprechlaute einer Sprache in melodische Pfeiftöne um. Wie das funktioniert und warum das Pfeifen als Kommunikationssystem verwendet werden kann, sehen wir uns heute etwas genauer an.
Florival fr: Exemple de langage sifflé „El Silbo“ pratiqué sur l’île de „La Gomera“ (Canaries) (Quelle)
Was zum Kuckuck?
Das ist Silbo. Silbo ist Spanisch und bedeutet “Pfiff”. Silbo ist eine sogenannte Pfeifsprache und wird auf La Gomera und anderen kanarischen Inseln gesprochen, oder besser: gepfiffen.
In den 70er Jahren galt Silbo praktisch als ausgestorben. Nur noch wenige Menschen beherrschten das Pfeifen damals noch. Staatlich geförderte Kurse weckten aber in den 80er Jahren neues Interesse an dieser besonderen Verständigungsform. Mittlerweile wird die Pfeifsprache sogar in den Schulen unterrichtet und gehört seit 2009 zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Was sind Pfeifsprachen?
Doch Silbo ist keine eigenständige Sprache im klassischen Sinn. Silbo ist ein besonderer Sprechmodus des Spanischen. Dabei werden die Sprachlaute der spanischen Sprache in melodische Pfeiftöne umgewandelt.
Pfeifsprachen wie das Silbo imitieren also Lautsprachen. Sie pfeifen sie eben. Dabei orientieren sie sich meist an der Tonhöhe der Sprachlaute oder am Tonhöhenverlauf von Silben. Dadurch entsteht zwar ein abgespecktes akustisches Signal, das weniger Informationen enthält als das lautsprachliche Equivalent. Die Töne können aber von geübten Pfeifer*innen meist problemlos interpretiert werden.
Wie das funktioniert und warum das so ist, sehen wir uns heute etwas genauer an.
Pfeifsprachen weltweit
Mittlerweile hat man weltweit bereits mehr als 80 Pfeifsprachen gefunden. Sie kommen auf allen Kontinenten und in allen Sprachfamilien vor. Dennoch sind Pfeifsprachen immer noch wenig erforscht.
Das liegt nicht nur daran, dass sie meist in abgelegenen, schwer zugänglichen Gegenden zu finden sind. Dort, wo meist auch Lautsprachen gesprochen werden, die bis heute kaum oder gar nicht untersucht wurden. Es liegt auch daran, dass das Pfeifen an sich nicht für eine sprachliche Handlung, sondern für ein nichtsprachliches Phänomen gehalten wird. Für ein gewöhnliches Pfeifen eben. Dazu kommt, dass die Kommunikation in Pfeifsprachen nach und nach veraltet, weil sich das ländliche Leben immer weiter modernisiert. Moderne Infrastruktur, Internet und Telefon machen Pfeifsprachen praktisch nutzlos.
Denn der Sinn und Zweck des Pfeifens besteht in erster Linie darin, über weite Distanzen und dichtes Terrain zu kommunizieren. Abgelegene Orte in bergiger Landschaft oder mitten im Regenwald sind mit Pfiffen sehr viel einfacherzu erreichen als über schlechte Straßen, die vielleicht gar nicht existieren.
Das Pfeifen ist wesentlich lauter als gewöhnliches Schreien und meist so hoch, dass es sich gut von natürlichen Umgebungsgeräuschen abhebt. Geübte Pfeifer*innen erreichen bis zu 120 Dezibel, und sind damit lauter als eine Autohupe. So können sie sich über Entfernungen von mehreren Kilometern mit anderen Pfeifer*innen verständigen. Pfeifsprachen haben sich daher vor allem in Gemeinschaften gebildet, die jagen, fischen oder Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Je nach Ausgangssprache, geographischer Verbreitung und lebensweltlichem Kontext verändert sich schließlich auch die Art und Weise des Pfeifens.
Man geht davon aus, dass es noch viele weitere, unentdeckte Pfeifsprachen gibt. Denn in vielen Regionen der Welt hat man noch gar nicht nach ihnen gesucht. Und trotzdem — oder gerade deshalb — sind gepfiffene Kommunikationsformen auch aus linguistischer Perspektive ein spannendes Phänomen. Die Erforschung von Pfeifsprachen könnte nämlich Aufschluss darüber geben, wie unser Gehirn aus komplexen Lautstrukturen Bedeutung herausfiltert.
Doch alles der Reihe nach.
Florival fr: Exemple de langage sifflé „El Silbo“ pratiqué sur l’île de „La Gomera“ (Canaries) (Quelle)
Aus Sprachlaute werden Pfeiftöne
Hat man sich das richtige Pfeifen erst einmal antrainiert, lässt sich beinahe jede Lautsprache der Welt pfeifen. Manchejedoch einfacher als andere. Aber dazu kommen wir noch.
Grundsätzlich ist das Prinzip des Pfeifens recht einfach: Üblicherweise werden die Laute einer Sprache durch die Stimmlippen erzeugt und in Mund-, Rachen- und Nasenhöhlen moduliert, quasi geformt. In den Pfeifsprachen werden diese Laute nun durch Pfiffe ersetzt. Das funktioniert, weil die wichtigsten Komponenten gesprochener Sprache — sogenannte Frequenzmuster — durch Pfeifen nachgeahmt werden können. Ein langes /i/ in etwa wird im Deutschen sehr weit oben im Mundraum erzeugt, wodurch es einen höheren Klang erhält als ein viel weiter unten erzeugtes /o/.
Diese Unterschiede in der Klangfarbe machen sich Pfeifsprachen zu Nutze. Durch unterschiedliche Kombinationen von Lautstärke, Tonhöhe, Zungenposition und Unterbrechung können also Pfeiftöne für spezifische Sprachlaute erzeugt werden.
Für das auf dem Spanischen basierenden Silbo ist dieses Prinzip kein Problem. Spanisch ist eine nicht tonale Sprache. Das bedeutet im Spanischen führt die Tonhöhe nicht zu Bedeutungsunterschieden. Sie kann also problemlos dafür eingesetzt werden, hohe von tiefen Tönen zu unterscheiden. Wie etwa ein /i/ von einem /o/.
Tonsprachen auf der anderen Seite — wie zum Beispiel Hochchinesisch — können dies nicht ohne weiters tun. In Tonsprachen ist der Tonhöhenverlauf beim Sprechen sehr wichtig. Ein und dieselbe Lautfolge erhält durch die Änderung der Tonhöhe eine andere Bedeutung. Sie chinesische Silbe “ma” kann entweder Mutter oder Pferd heißen, je nachdem ob sie mit gleichbleibend hohem Ton oder mit zuerst fallendem und dann steigendem Ton gesprochen wird. Mā und mǎ sollten also wirklich nicht verwechselt werden. Bei der Übertragung von Lauten in Pfiffe muss sich die pfeifende Person also entscheiden, ob sie mit der Tonhöhe des Pfiffs nun die Tonhöhe der Silbe wiedergeben möchte, oder die spezifische Lautqualität der Silbe, wie im Silbo.
Tonsprachen mit sehr vielen Tönen drücken mit der Pfeiftonhöhe meist den Tonhöhenverlauf der Lautsprache aus und sind damit relativ gut verständlich. Tonsprachen mit nur wenigen Tönen können so jedoch nicht genug Bedeutung kodieren und müssen sich für gewöhnlich auf einige wenige, leicht verständliche Sätze beschränken.
Doch sowohl in tonalen als auch in nicht tonalen Sprachen enthält eine gepfiffene Aussage weniger Frequenzinformation als gesprochene Sprache. Der Gesprächskontext spielt daher beim Verstehen eine relativ wichtige Rolle. Eine Studie mit pfeifenden Türkischsprecher*innen ergab, dass erfahrene Hörer*innen Wörter im normalen Gesprächszusammenhang zu 80 bis 90 Prozent richtig erkannten.
Im Grunde tun hörende Pfeifende also nichts anders als nicht Pfeifende in einer lauten Umgebung: Sie stückeln sich die Bedeutung des Gesagten aus Teilen des kompletten Sprachsignals zusammen. Und genau an diesem Punkt kann sich die Erforschung von Pfeifsprachen als außerordentlich nützlich erweisen. Denn wir wissen eigentlich noch erstaunlich wenig darüber, was uns wirklich dabei hilft, eine gesprochensprachliche Äußerung zu verstehen.
Psycholinguistische Forschung
Denn die akustischen Signale gesprochener Sprache sind unheimlich komplex. Viel zu komplex eigentlich. Eine gesprochene Äußerung ist meist auch dann noch verständlich, wenn die Hörumgebung weniger ideal ist. Wir können mit unserer Kollegin meist auch noch während einer lauten Office Party unterhalten. Solange zumindest, bis wir es nicht mehr können.Genau diesen Punkt gilt es aber erst zu bestimmen. Jenen Punkt, an dem wir das Gesagte nicht mehr verstehen können. Oder anders: Jene Menge an Information, die wir einer sprachlichen Äußerung entnehmen müssen, um sie verstehen zu können.
Die französische Psycholinguistin Fanny Meunier versucht genau das herauszufinden. Dabei arbeitet sie nicht nur mit gesprochener, sondern auch mit gepfiffener Sprache. Bislang konnte sie bereits zeigen, dass auch Nichtpfeifer*innen Pfeiftöne ziemlich gut erkennen können. Selbst Teilnehmer*innen, die noch nie eine Pfeifsprache gehört hatten, konnten im Experiment sowohl Vokale als auch Konsonanten deutlich sicherer als zufällig bestimmen.
Beim Erkennen von Konsonanten schienen Musiker*innen sogar noch etwas besser zu sein als Nicht-Musiker*innen. Vor allem Flötenspieler*innen zeigten hier ein besonderes Talent. Ob sich dieser Vorteil durch antrainierte Spieltechniken oder über ein besonders geschultes musikalisches Gehör entsteht, ist noch nicht geklärt.
Studien, die sich mit der Verarbeitung von Pfeiftönen im Gehirn befassen, könnten hier Aufschluss geben.
Florival fr: Exemple de langage sifflé „El Silbo“ pratiqué sur l’île de „La Gomera“ (Canaries) (Quelle)
Neurolinguistische Forschung
2015 reiste ein Team von Neurowissenschaftler*innen rund um Onur Güntürkün nach Kuşköy, ein kleines Dorf im Nordosten der Türkei, um dort zu herauszufinden, in welcher Hirnhälfte Pfeifer*innen Pfeiftöne verarbeiten.
In ihrem Experiment spielten sie den Teilnehmer*innen gleichzeitig zwei unterschiedliche Sprechsilben vor. Eine Silbe ins rechte Ohr, eine andere ins linke. Danach mussten die Proband*innen angeben, was sie verstanden hatten.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass unser Gehirn auf andere Hirnareale zurückgreift, wenn es Pfeiftöne verarbeitet, als wenn es Lautsprache verarbeitet. Wurden den Teilnehmer*innen gesprochenes Türkisch vorgespielt, konnten sie sich an jenen Sprachinput besser erinnern, den sie über das rechte Ohr gehört hatten. Ganz anders war es bei gepfiffenem Türkisch. Hörten die Teilnehmer*innen Pfeiftöne, konnten sie den linken Input genauso oft verstehen wie den rechten.
Die Wissenschaftler*innen erklären diesen Unterschied damit, dass die linke Hirnhälfte, die Informationen über das rechte Ohr erhält, und in der bei den meisten Menschen wichtige sprachverarbeitende Netzwerke liegen, auf den schnellen Wechsel gesprochensprachlicher Reize spezialisiert ist. Die rechte Hemisphäre hingegen, die mit dem linken Ohr verbunden ist, befasst sich stärker mit Rhythmus und Melodie, die weniger rasch variieren als die klanglich deutlich komplexeren Sprachlaute. So könnte die rechte Hemisphäre beim Hören von Pfeifsprachen von ähnlicher großer Bedeutung sein wie die linkeHirnhälfte.
Wie es mit der Sprachverarbeitung nach der ersten Reizunterscheidung weitergeht, bleibt eine offene Forschungsfrage für zukünftige Studien. Die inhaltliche Interpretation — also das eigentliche Verstehen — einer Äußerung dürfte aber — wie bei gesprochener Sprache auch — in der linken Hemisphäre stattfinden.
Nicht nur die Spatzen pfeifen
Nun wissen wir es also: Nicht nur die Spatzen pfeifen von den Dächern. Pfeifsprachen sind eine traditionelle und effektive Kommunikationsformen, die sich praktisch überall auf der Welt entwickelt haben. Sie verraten viel über die traditionelle Lebensweise der Pfeifer*innen. Und — wenn sie lang genug überleben — verraten sie uns irgendwann sogar etwas, was wir ohne sie vielleicht gar nie über uns Mensch, der sprechen kann und hören kann, herausgefunden hätten.