Sprachtod

Warum verschwinden Sprachen?

Heute werden weltweit rund 7.000 verschiedene Sprachen gesprochen. Viele von ihnen haben nur noch wenige Sprecher*innen. Sprachen wie Englisch, Deutsch oder Hochchinesisch mit mehreren hundert Millionen Sprecher*innen gibt es nur sehr, sehr wenige. Konkret bedeutet das, dass etwa 75 Prozent der Weltbevölkerung nur rund 1 Prozent aller Sprachen sprechen.

Ein sterbender Dialekt

Gälisch wird in Schottland gesprochen und gehört zu den keltischen Sprachen. Heute wird Gälisch immer mehr vom Englischen verdrängt. Besonders gut sind die Aufzeichnungen zu einem gälischen Dialekt, der in East Sutherland gesprochen wurde. Bis zum 18. Jahrhundert lebten die gälischsprachigen Bewohner*innen in dieser Grafschaft ganz im Norden der britischen Inseln von Landwirtschaft. Als die Grundbesitzerin, Lady Sutherland, die Pachtverträge mit den Getreidebauern aufkündigte, mussten viele Menschen ihre Höfe verlassen, um Schafzüchtern aus den englischsprachigen Lowlands Platz zu machen. Die Bauern verarmten und wurden an die Küste umgesiedelt, buchstäblich an den Rand der Gesellschaft.

Im 19. Jahrhundert drang die englische Sprache immer weiter in diese Küstendörfer vor. Kirche, Schule, Geschäftswelt, Gesundheitswesen. Um wieder einen Zugang zu diesen zentralen gesellschaftlichen Bereichen zu bekommen, war es wichtig, Englisch zu sprechen.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wachsen also fast alle zweisprachig auf. Zuerst mit Gälisch als Muttersprache und Englisch als Zweitsprache. Später umgekehrt. Mittlerweile sind die Menschen, die Gälisch noch als Muttersprache sprechen, bereits sehr alt. Ihre Kinder und Enkelkinder beherrschen den Dialekt nicht mehr gut genug, um ihn an ihre eignen Kinder weiterzugeben. Nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis diesen Dialekt niemand mehr sprechen kann.

Das alles passierte in rund 2 1/2 Jahrhunderten. Von der Umsiedelung der damaligen Landwirt*innen bis zum Generationenbruch innerhalb der Familien. In 250 Jahren wurde aus einem vitalen gälischen Dialekt eine Sprache, die in ein paar Jahrzehnten niemand mehr spricht.

Die Geschichte wiederholt sich

Geschichten wie diese, sind nicht neu. Und sie sind nicht selten. Überall auf der Welt verschwinden Sprachen. Jederzeit.

Der Ablauf ist immer ähnlich: Hat eine Sprache nur noch wenige Sprecher*innen oder wird sie nur mehr in einem kleinen Bereich, wie etwa der Familie, gesprochen, wechseln die Sprecher*innen häufig in eine „größere“ Sprache, die ihnen im öffentlichen Leben nützlicher ist. In der Schule, im Geschäftsleben, in der Gesundheitsfürsorge werden für gewöhnlich nur „große“ Sprachen verwendet. Immer mehr Menschen verrichten bezahlte Arbeit, müssen sich um Steuern und Sozialleistungen kümmern. All das erfordert die Kenntnis einer einflussreichen Sprache. Nicht zuletzt fehlt es Sprecher*innen kleiner Sprachen sehr oft auch an Ressourcen, wie es in East Sutherland der Fall war. Um ihre Rechte einzufordern, müssen diese Menschen die Sprache der herrschenden Gruppe sprechen.

Sprachen entwickeln sich ständig. Sie verändern sich, entfernen sich von einer Sprache und nähern sich der nächsten an. Es gibt keine von Natur aus stabilen Sprachen, die dem Druck der Zeit standhalten könnten.

Während in der Jungsteinzeit vermutlich noch sehr viele kleine Sprachen existierten, tendiert diese Sprachenvielfalt in den letzten 3000 Jahren immer weiter hin zu einigen wenigen größeren Sprachen. Und dieser Vorgang beschleunigt sich mit der Vorherrschaft politischer und wirtschaftlicher Großmächte sowie mit der zunehmenden Vernetzung unserer globalisierten Welt immer weiter.

Sprachtod?

Der Name für diesen Prozess lautet häufig „Sprachtod“. Doch dieser Begriff ist irreführend. Der Begriff funktioniert als Metapher für den Menschen, der natürlich nicht einfach „verschwindet“, sondern, wenn er aufhört zu existieren, stirbt. Er suggeriert, dass Sprachen ein Leben für sich hätten, einen Organismus, der lebendig ist, bis er es eben nicht mehr ist, und stirbt.

Das Bild der „lebendigen“ Sprache ist zwar eindringlich, aber es ist auch gefährlich. Es setzt Sprache mit einem biologischen Merkmal des Menschen gleich, mit dem wir geboren werden und in das wir hineingewachsen sind. Gleichzeitig blendet es aber die gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse aus, die zum vermeintlichen „Tod“ einer Sprache führen. Mehr noch, er verschleiert nicht nur die Hintergründe — also die Dominanz einer herrschenden Gruppe und ihrer Sprache —, sondern macht „Sprachtod“ zu etwas Unausweichlichem, das allen Lebensformen passiert, wenn sie „alt“ und „schwach“ werden. Und er verlagert die Verantwortung für die Pflege und den Erhalt dieses „schwächelnden Organismus“ auf die Sprecher*innen selbst. Aber dazu kommen wir noch.

Was bleibt?

Sprachtod — egal wie wir ihn nun bezeichnen — führt jedoch immer zum Verschwinden von Sprachen. Doch was bleibt eigentlich übrig, wenn Sprachen verschwinden?

Wie das Beispiel aus Schottland zeigt, hinterlassen die meisten Sprachen sehr wenige Spuren, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Manchmal bleibt ihr Name, vielleicht ein paar Feldnotizen aus der Forschung, mit etwas Glück ein paar Tonbandaufnahmen. Denn die meisten Sprachen sind nicht verschriftlicht. Sie existieren oder existierten nur in mündlicher Form. Sind doch umfangreichere Textdokumente vorhanden, handelt es sich meist um Schriftstücke, die von Missionaren verfasst wurden: Wortlisten, einfache Grammatiken oder die Übersetzung eines Evangeliums.

Sprachen ohne schriftliche Dokumentierung hinterlassen oft noch viel weniger. Von ihrer Existenz zeugen vielleicht noch ein Ortsname hie und da, das ein oder andere Lehnwort in einer Nachbarsprache oder ein gewisser Akzent, wenn die Nachkommen der Sprecher*innen die neue Sprache sprechen.